9.10.2017

Inklusion: Auf das Wie und Wo kommt es an

 

Dieser Artikel ist eine Ergänzung zum u.s. Beitrag "Inklusion: Gepflegte Kaltschnäuzigkeit".

 

Wie so oft neigt die Bevölkerung zur Pflege des Alles-oder-Nichts-Prinzips. Was keinesfalls Ziel meines letzten Beitrags gewesen sein sollte: dem Inklusionsgedanken pauschal seine Berechtigung abzusprechen. Es ist eine Frage der Umsicht und der Maßhaltung. 

 

Inklusion: Wo?

 

Die von einigen Gruppen radikale Forderung sämtliche Förderschulen aufzulösen, weil angeblich nur dies dem Inklusionsgedanken der UN-Behindertenrechtskonvention gerecht würde, findet ihre Entsprechung in der weiteren Forderung, auch die „Sonderstrukturen“ der Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) überflüssig zu machen. Vernünftigerweise lässt die Politik bisher die Finger davon, dieses bewährte System zu zerstören. Das Deutsche Institut für Menschenrechte (DIMR) beschwert sich darüber in dieser Stellungnahme: „Besondere Sorge bereitet, dass die Bundesregierung wiederholt erklärt hat, sie werde der Empfehlung des UN-BRK-Ausschusses, die Werkstätten schrittweise zurückzubauen, nicht folgen.“ Es ist schon fast zynisch, wenn das DIMR im selben Schreiben feststellt: „Das Problem dabei ist nicht, dass die Bedingungen in den Werkstätten schlecht wären. Im Gegenteil: Die Werkstattbeschäftigten finden dort Unterstützungsangebote vor, die ihnen in aller Regel heute auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stünden. Deshalb fühlen sich viele in ihrer Werkstatt wohl.“  

 

Dass sich die meisten Menschen mit Behinderungen in ihrer WfbM wohl fühlen, was offenbar beim DIMR nicht ausschlaggebend ist, entspricht auch der sozialpädagogischen Erfahrung. Es ist keineswegs so, dass die Menschen dort ausschließlich „in einer Art Sonderwelt, isoliert von Menschen ohne Behinderung“ arbeiten. Abgesehen von den zahlreichen Angestellten ohne Behinderung und dem Kontakt mit Auftraggebern finden regelmäßig Ausflüge statt, Veranstal-tungen, Tage der Offenen Tür, Austausch der (behinderten) Werkstatträte in Kooperation mit kommunalpolitischen Vertretern etcetera. An der Durchlässigkeit der Werkstätten zum allgemeinen Arbeitsmarkt wird erfolgreich gearbeitet: Es sind zahlreiche Außenarbeitsplätze entstanden. Gleichwohl sind die Leute dankbar um die Anbindung an die WfbM. Die Entlohnung lediglich im Umfang eines Taschengeldes – die Grundsicherung sorgt in der Regel für die Sicherstellung des Lebensunterhalts – ist in der Tat diskussionswürdig. Das wäre ein Thema der Arbeitsmarktpolitik, generell: auch etliche nicht behinderte Menschen können sich trotz Vollzeitbeschäftigung kein kostenintensives Hobby oder einen längeren Urlaub leisten.  

 

Man sollte über diese Debatten nicht vergessen, dass das Leben nicht nur aus Schule und Arbeit besteht. Zusammenkünfte von behinderten und nicht behinderten Menschen sind in der Freizeit organisierbar, ohne bewährte Strukturen in Frage zu stellen. Angebote für inklusive Freizeitreisen und Gruppenaktivitäten sind bereits vorhanden. Es stellt sich hier zuvorderst die Frage nach dem Interesse nicht behinderter Menschen daran teilzunehmen; sich bei der Begegnung mit behinderten Menschen nicht ab-, sondern zuzuwenden und Gefallen an diesen Begegnungen zu finden. Daran schließt sich die Überlegung, welche Art und Weise dem Inklusionsgedanken förderlich wäre.  

 

Inklusion: Wie?

 

Gerne übergangen wird Artikel 8 UN-Behindertenrechtskonvention: Bewusstseinsbildung. Das Bewusstsein für die Fähigkeiten und den Beitrag von Menschen mit Behinderungen soll gefördert werden, unter anderem durch „wirksame Öffentlichkeitskampagnen“ und „die Aufforderung an die Medien, Menschen mit Behinderungen“ darzustellen. Wo sind diese zum Beispiel in den Talkshows zu sendestarken Zeiten vertreten? Das Manko schlechthin ist allerdings dort zu identifizieren, wo versucht wird, nicht behinderten Menschen ein positives Bild über Menschen mit Behinderung mit der UN-Konvention in der einen Hand und der Rute – etwa dem Antidiskriminierungsgesetz – in der anderen Hand einzubläuen. Was soll denn dabei schon herauskommen? Entsprechendes Bewusstsein wird nie unter dem Motto „Strafe statt Überzeugungsarbeit“ erreicht werden. Für letztgenanntes müsste man vorwurfsfrei auf nicht Behinderte zugehen, ihr Interesse anregen und ihnen die Begegnung mit behinderten Menschen schmackhaft machen, so dass sie sich freiwillig dafür entscheiden. Wenn das nicht gelingt, dann müssen nicht noch mehr Forderungspapiere und Strafgesetze produziert werden: es muss dann bessere Überzeugungsarbeit geleistet werden.   

 

Wer lässt sich denn letztlich nicht beeindrucken von einem, der mit verkürzten Armen ohne Hände virtuos Panflöte spielt? Und wer lässt sich nicht anrühren von den „irren Typen“ und anderen Vorbildern? Es ist sowohl beruhigend als auch anregend zu wissen, dass ein Leben selbst mit gravierenden Einschränkungen erfüllt und intensiv sein kann. Im Umfeld der Behindertenpolitik haben sich außerdem interessante Kooperationen aufgetan, zum Beispiel beim Design für Alle: ein Zusammenschluss von Architekten, Stadtplanern, Behindertenverbänden und Ingenieuren, die daran arbeiten Produkte, Dienstleistungen und Infrastrukturen so zu gestalten, dass sie allgemein gebrauchsfreundlich sind und vor allem aufgrund des Alters oder einer Behinderung genutzt werden können. Ein weiteres Beispiel: Für nicht behinderte Linguisten könnte die Beschäftigung mit der Gebärdensprache im Rahmen grammatikalischer Vergleiche interessante Aspekte bieten. Gerade die Gehörlosigkeit verdeutlicht, dass es auch die kulturelle Sichtweise zu berücksichtigen gilt.

 

Gehörlosengeschichte: Ein spannender Ausflug 

 

Geschichtsschreibung aus anderer Perspektive bietet Harlan Lane mit seinem detailliert recherchierten Werk „Mit der Seele hören“. Gehörlosengeschichte als Forschungsbereich zeigt, wie spannend die Auseinandersetzung mit dem Thema Behinderung auch sein kann. Der Streit um das richtige Kommunikationsmittel, Lautsprachunterricht („oralistische Tradition“) versus Gebärden-sprachunterricht, spielt ebenso eine Rolle wie es philosophische Auffassungen während der Aufklärung – vor allem die Sprache mache den Menschen zum Menschen – und weltpolitische Ereignisse tun. So waren laut Lane die Deutschen beim 2. Internationalen Taubstummenlehrerkong-ress in Mailand 1880 nicht erwünscht, da Preußen „eben gerade Frankreich Prügel verpasst“ hatte. Vertreter der oralistischen Tradition befürchteten, dass es mit den Deutschen zusammen nicht gelänge, die Franzosen auf ihre Seite zu ziehen. Auf dem Kongress führte man dann gehörlose Schüler vor, die vorher streng gedrillt und manipuliert wurden. Entscheidende Zusatzinformationen, etwa seit wann die Schüler ertaubt waren, gab es nicht. „Unter den Delegierten war ein einziger Gehörloser und mit Ausnahme der Amerikaner stimmten am Ende des Kongresses alle zu, die Gebärdensprache endgültig aus den Schulen zu verbannen.“ Während des Kongresses in Brüssel 1883 verließ der König von Belgien mit der Bemerkung den Saal, die Taubstummenlehrer erinnerten ihn an sein eigenes Parlament. Und auf dem darauf folgenden Kongress in Frankfurt veranstalteten die Franzosen einen derartigen Aufstand, dass man die Zusammenkunft früher als geplant beenden musste. Die negativen Folgen des Mailänder Beschlusses, insbesondere auch für die (berufliche) Entwicklung Gehörloser, zogen sich fast über einhundert Jahre lang hin. Lane fasst den Kampf rund um die Gehörlosenpädagogik so zusammen: Tatsächlich ist die oralistische Tradition eine Geschichte von Habsucht, Plagiat, Geheimniskrämerei und Gaunerei – nicht aber von Bildung. 

 

Das Mittel der Wahl

 

Es ist richtig, den Inklusionsgedanken weiter im Sinn zu haben. Auf das Wie und Wo kommt es an. Das effektive Mittel der Wahl ist nicht jenes diverser Lobbyisten, die behinderten Menschen eine maßlose Anspruchshaltung einreden und nicht Behinderten mit Strafandrohungen kommen und damit Blockadehaltungen provozieren. Solch autoritäre Haltung verbreitet nur schlechte Stimmung. Das Mittel der Wahl wäre, charmant und maßvoll für die Inklusion behinderter Menschen zu werben. Viel Geld muss das nicht kosten. Und sollte einmal die Finanzierung heruntergeschraubt werden, die sich im Zuge der unendlichen Produktion von Forderungspapieren ergibt, dann sind die freiwerdenden Gelder Förderschulen und WfbMs zur Verfügung zu stellen, damit sie ihrer Klientel noch öfters als bisher inklusive Austauschprojekte und Ausflüge bieten können. 

 

Nachtrag aus einem Leserkommentar dazu: "Jedes Casting wäre demnach Diskriminierung. Fast jedes Vorstellungsgespräch endet mit einer Exklusion. Wenn man in diese Richtung weiterdenkt, merkt man, wie absurd die unbedingte Inklusion ist."

 

Nachtrag vom 17.4.2018: Zur Klage einer Bremer Schulleiterin, die ohne entsprechende Voraussetzungen keine Inklusionsschüler an ihrem Gymnasium aufnehmen will, siehe diese Replik eines Pädagogen: "Hiesige Verfechter einer radikalen, totalen Inklusion neigen nicht selten zu fanatischem Eifer ... Verabschieden wir uns also von unseliger Prinzipienreiterei - und lernen, dual-inklusiv zu denken ... Dabei bekäme jedes Kind die in seinem Fall günstigsten Bedingungen, und darüber haben Lehrer und Eltern zu befinden, nicht Politik oder Ideologie." 

 

Nachtrag vom 14.6.2018: "Immer neue Brandbriefe von Lehrern beklagen die gescheiterte Inklusion an Schulen. Kritiker halten das System für gescheitert, Befürworter rüsten auf."

 

Nachtrag vom 26.6.2020: Bilanz: "Schüler mit Förderbedarf bleiben meist unter sich."


2.10.2017

Inklusion: Gepflegte Kaltschnäuzigkeit

 

Darauf hat man im Land gerade noch gewartet: dass gesinnungsjagende Zeitungsfritzen nun auch Menschen mit Behinderung instrumentalisieren. „Darf ein Café, in dem Menschen mit und ohne Behinderung arbeiten, das für eine Vielfalt der Gesellschaft steht, öffentlich bei Facebook schreiben, dass AfD-Wähler im Café nicht erwünscht sind?“, stellt die Lippische Landes-Zeitung (LZ) zur Debatte. Sie bezieht sich auf einen Aushang an der Tür des Cafés Vielfalt in Lemgo und auf den Facebook-Eintrag der Café-Leitung mit dem Wortlaut: „Liebe Gäste, in unserem Team arbeiten Menschen mit und ohne Behinderungen, Deutsche und Ausländer. Und das ist gut so. Zum Schutz unseres Teams sind AfD-Wähler bei uns nicht erwünscht.“  

 

Kein Espresso für AfD-Wähler

 

Beides wurde zwar inzwischen zurückgenommen, da die cafébetreibende Stiftung „als diakonische Einrichtung der politischen Neutralität verpflichtet“ ist. Die LZ legt trotzdem im Kommentar „Ekelhafte Eskalation“ nach: „Das Lemgoer Café Vielfalt hat politisch Stellung bezogen: Wähler der AfD sind unerwünscht. Es dauerte nicht lange, bis der Mob im Internet tobte: Demokratiefeinde! Doppelmoral! Wie im Dritten Reich!“ Dabei habe ein Gastronom nur sein Hausrecht ausgeübt: „Jeder Gastwirt darf Besucher rauswerfen, wenn sie andere Gäste verprellen oder Unfrieden stiften. Und im Falle des Café Vielfalt lassen sich durchaus Gründe finden, dass AfD-Sympathisanten hier nicht richtig aufgehoben sind.“ Das Café Vielfalt sei ein Bekenntnis zur Integration Behinderter, „die die AfD im Falle von Schulen polemisch ablehnt“. „Wer das tut, kann nicht allen Ernstes im Café Vielfalt seinen Espresso trinken wollen...“ Abgesehen von der kaum noch zu toppenden Unverschämtheit stellt sich die Frage, wie der Kommentator mit einem AfD-wählenden Behinderten zurande käme? Darf der dann auch keinen Espresso im Café Vielfalt trinken? Oder soll er von vornherein nicht frei wählen dürfen?  

 

Erfahrung spricht für Erhalt der Förderschulen

 

Im Wahlprogramm der AfD steht tatsächlich: „Kinder mit besonderem Förderbedarf erhalten in der Förderschule eine umfassende Unterstützung, die die Regelschule nicht leisten kann. Die AfD setzt sich deshalb für den Erhalt der Förder- und Sonderschulen ein.“ Das geht allerdings konform mit neueren Einschätzungen im betroffenen Umfeld. Das Handelsblatt berichtet: Lehrer in Deutschland halten eine gemeinsame Beschulung mehrheitlich für sinnvoll, in einer Forsa-Befragung sprachen sich aber wegen Umsetzungsproblemen 59 Prozent für den Erhalt der Förderschulen und 38 Prozent für einen teilweisen Erhalt aus. 42 Prozent sagten, Kinder mit Behinderung würden besser in Förderschulen unterrichtet. „Die Umfrage zeige, dass bei der Inklusion Anspruch und Wirklichkeit nicht im Einklang sind.“ Entsprechend ist auch die FDP vorerst für den Erhalt von Förderschulen – dürfen FDP-Politiker dann auch keinen Espresso im Café Vielfalt trinken, weil sie dann „Gäste verprellen oder Unfrieden stiften“? Außerdem: „Tausende Eltern fürchten, dass die Inklusion für ihre Kinder nicht das Richtige ist“ und kämpfen für den Erhalt der Förderschulen. Und: „Im Sauerland führt eine Mutter eine Kampagne zur Erhaltung von Förderschulen. Sie meint, dass ihr lernbehinderter Sohn dort besser aufgehoben ist - und weiß schon fast 12.000 Unterstützer hinter sich.“ Müssen all diese Eltern draußen vor der Türe warten, bis ihre behinderten Kinder ihre Tasse Schokolade alleine im Café Vielfalt getrunken haben?   

 

Autoritär gegen Elternwillen und Kindeswohl

 

All den zweifelhaften Erfahrungen mit gemeinsamer Beschulung in Regelschulen zum Trotz fordert aktuell der Zusammenschluss von 14 Verbänden und Gewerkschaften „Bündnis für Inklusion“ auf geradezu aggressive Weise, den gemeinsamen Unterricht von behinderten und nicht behinderten Schülern in Regelschulen voranzutreiben. „Dazu sollen die Förderschulen im Land mittelfristig alle geschlossen werden“, so die Osnabrücker Zeitung. Eine Aktivistin sagt: „Eltern solle zudem das Recht genommen werden, ihre Kinder auf die Förderschulen zu schicken. Denn allein ihre Existenz ist nach Ansicht der Mutter eines behinderten Kindes ein Bruch der UN-Behindertenrechtskonvention (BRK).“ Ob der Sozialverband Deutschland und die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft auch das Elternwahlrecht abschaffen wollen sei offen. „Das Wahlrecht hat es eigentlich nie gegeben“, behaupten die Verbände. Es müssten dann auch etliche Schulgesetze geändert werden. Beim Schulministerium NRW steht dazu: „Sonderpädagogische Förderung findet in der Regel in der allgemeinen Schule statt“. Aber: „Die Eltern können abweichend hiervon die Förderschule wählen.“ (§ 20 Abs. 2 SchulG) Die Durchpeitscher der Abschaffung sämtlicher Förderschulen können sich auf zahlreiche Expertisen wie etwa des Wissenschaftszentrums Berlin berufen: Artikel 24 UN-BRK sehe „ganz bewusst kein Wahlrecht zwischen einer inklusiven und einer gesonderten Beschulung vor“. Zurückhaltender interpretierte vor einigen Jahren der Deutsche Städtetag die Lage: „Des Weiteren schließt die UN-BRK die Existenz von Förderschulen nicht aus…Bei der Umsetzung des Art. 24 UN-BRK bestehen folglich Handlungs- bzw. Gestaltungsspielräume der Vertragsstaaten.“ Weitere Aspekte: Das Wohl des Kindes gelte es vorrangig zu berücksichtigen. „In Art. 24 Abs. 3 lit. c) UN-BRK wird dieser Grundsatz dahingehend konkretisiert, dass ‚blinden, gehörlosen oder taubblinden Menschen, insbesondere Kindern, Bildung in den Sprachen und Kommunikationsformen…sowie in einem Umfeld vermittelt wird, das die bestmögliche schulische und soziale Entwicklung gestattet‘.“ Außerdem: „Ebenso ist allgemein anerkannt, dass der Schutz der Menschenrechte anderer eine immanente Schranke jedes Menschenrechts sein kann, so auch Art. 3 Abs. 1 UN-BRK.“ Das betrifft das Recht auf Bildung anderer Kinder, das durch inklusiven Unterricht gefähr-det werden könnte (nicht in jedem Fall wird). „Das Recht auf inklusive (Schul-)Bildung kann daher im Ergebnis nur im Grundsatz vorbehaltlos gewährleistet werden.“   

 

Aggressive Umsetzung höhlt die Menschenrechtsidee aus 

 

Die Fokussierung auf juristisch spitzfindige Auslegungen und die kaltschnäuzige Abservierung des Elternwillens verdunkeln indessen auch die ursprüngliche Menschenrechtsidee. Seinerzeit wurde in die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte hinein formuliert: „Die Eltern haben ein vorrangiges Recht, die Art der Bildung zu wählen, die ihren Kindern zuteil werden soll.“ (Artikel 26) Die spätere linkspopulistische Vereinnahmung der Menschenrechtsdebatte bezüglich der Konkretisierung der Rechte hat inzwischen dazu geführt, dass anstatt einer Förderung des friedlichen Miteinanders verschiedene Interessengruppen wie Kampftruppen gegenüber stehen und teils jeglichen zwischenmenschlichen Respekt vermissen lassen. Forciert wird dies noch durch die Proklamierung der Inklusion als Wahlkampfthema – in Niedersachsen wird am 15. Oktober ein neuer Landtag gewählt. Solange es dabei um den Streit der besten Konzepte im Sinne behinderter Kinder und ihrer Eltern sowie – inklusiv gedacht – auch um die Berücksichtigung der Bedürfnislage nicht behinderter Kinder ginge, wäre das in Ordnung. Allerdings ist vielfach zu beobachten, dass diverse Zusammenschlüsse mit kollektivistisch geprägten Gedankengängen bestrebt sind, die individuelle Selbstbestimmung als lästigen Störeffekt zu beseitigen. Das ist ein klarer Affront gegen die Menschenrechtsidee, die gerade individuelle Autonomie und Besonderheiten wertschätzt.   


14.7.2017

Liu Xiaobo glänzt trotzdem

 

Gestern ist Liu Xiaobo gestorben. Er hatte mit 61 Jahren Leberkrebs im Endstadium. Der fried-fertige Menschenrechtler ist sein ganzes Leben lang authentisch geblieben. Ganz sicher ist er mit sich vollständig im Reinen gewesen, als er sich auf die letzte Reise begab. Wie wird es wohl in solchen Minuten den Verantwortlichen im chinesischen Regime ergehen, die eine irrsinnige Maschinerie in Gang setzen, um einen einzelnen Menschen aus der Mitte der Gesellschaft zu beseitigen, sich dafür noch international blamieren und sich getrieben fühlen, seine Angehörigen noch nach seinem Tod zu demütigen? „Er wusste, dass er mit seiner Freiheit und mit seinem Leben bezahlen musste, wenn er sich frei äußerte. Aber er tat es trotzdem“, zitiert die Deutsche Welle dessen Freundin. Der Freiheitskämpfer hatte sich also dafür entschieden und er blieb dabei, mutig und konsequent. Es liegt nahe anzunehmen, dass es den Regierenden, die ausschließlich in geschützter Gruppe agieren und zu solch selbstbestimmter Entscheidung gar nicht fähig wären, nicht nur um deren Machterhalt ging, sondern auch um blanken Neid auf die starke Authentizität des Menschenrechtlers. Vielleicht verhält es sich ein wenig wie mit dem Johanniswürmchen und der Kröte aus Gottlieb Pfeffels Fabel: „Ein Johanniswürmchen saß, seines Demantscheins unbewusst, im weichen Gras eines Bardenhains. Leise schlich aus faulem Moos, sich ein Ungetüm, eine Kröte, her und schoss all ihr Gift nach ihm. Ach, was hab' ich dir getan? rief der Wurm ihr zu. Ei, fuhr ihn das Untier an, warum glänzest du?“ Es wird sie wohl weiter umtreiben, dass sie Xiaobo den Glanz nicht nehmen können. 

 

Nachtrag: Die unter Hausarrest stehende Ehefrau von Xiaobo, Liu Xia, ist laut Martin-Liao in Gefahr: "Wir müssen alle Kraft einsetzen, um sie zu retten. Sonst wird sie nicht überleben." DW

 

Nachtrag vom 13.7.2018: "Nach acht Jahren in Sippenhaft durfte Liu Xia nach Deutschland ausreisen ... Liu Xias Bruder musste in der Volksrepublik bleiben, als politische Geisel."


27.6.2017

Liu Xiaobo: Umerziehung gescheitert

 

Seit gestern ist bekannt: Das chinesische Regime hat den seit vielen Jahren inhaftierten Menschenrechtler Liu Xiaobo bereits Ende Mai auf Bewährung freigelassen. „Wenige Tage zuvor hatten die Ärzte bei Liu eine unheilbare Leberkrebserkrankung festgestellt“, so die Wiener Zeitung. Er wird im Krankenhaus behandelt. Xiaobo war bei Kämpfen für bürgerliche Freiheiten aktiv. Schon 1991 wurde der frühere Hochschuldozent mit Berufsverbot belegt und später für drei Jahre zur „Umerziehung“ ins Arbeitslager geschickt. Die geplante Umerziehung ist krachend gescheitert, denn der Schrift-steller beteiligte sich 2008 als führender Autor an der Charta 08, die sich der Abschaffung der chinesischen Parteidiktatur widmet. Xiaobo wurde daraufhin wegen „Untergrabung der Staatsgewalt“ festgenommen und ein Jahr später zu elf Jahren Haft verurteilt. 2010 vergab das norwegische Nobelkomitee den Friedensnobelpreis an Liu Xiaobo für seinen beharrlichen und gewaltlosen Kampf für Menschenrechte in China. Der leere Stuhl bei der Preisverleihung in Oslo hinterließ bleibenden Eindruck. „Auch die Absage von 19 Staaten ist nicht der diplomati-sche Triumph, den chinesische Medien jetzt behaupten“, schrieb damals Deutschlandfunkkultur. Überhaupt kann von einem Triumph autoritärer Regime keinerlei Rede sein. Die Autorin verweist an dieser Stelle gerne auf ihren Leserbrief zum Thema im Tagesspiegel (2010): „Ein Regime schlägt zurück und hat doch schon längst verloren. Was auch immer dem neuen Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo noch angetan wird, mindestens seine Liebeserklärung ist nicht mehr aus der Welt zu schaffen: ‚Auch wenn man mich zu Pulver zermahlt, meine Asche wird dich umarmen‘ ist ein Satz, der sich nicht bekämpfen lässt. Machthabende, die ihr Leben damit verbringen, gegen kreative Freigeister in der Luft zu fechten, haben verloren gegen die Gedankenfreiheit, gegen das Gewissen, gegen die Poesie, gegen die Spiritualität. Niemals wollte ich diese Lebensqualitäten eintauschen gegen die Möglichkeit, Andersdenkende zu unterdrücken und Geld zu horten. Verlierer sind dort an der Macht. Die Gewinner sind anderswo.“  

 

Nachtrag vom 29.6.: "Chinas Behörden haben das Gesuch des Friedensnobelpreisträgers Liu Xiaobo, sich im Ausland medizinisch behandeln zu lassen, abgelehnt." (Deutsche Welle) Und Deutschlandfunk: "Rund 100 Autoren aus aller Welt haben China aufgerufen, dem todkranken Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo die Ausreise zu erlauben." Liu und seine Frau Liu Xia hätten den Wunsch geäußert, in Deutschland medizinische Hilfe zu bekommen. 

 

Nachtrag vom 12.7.: Ein deutscher Krebsarzt, der Liu im Krankenhaus untersuchen durfte, wurde durch die chinesische Staatssicherheit heimlich gefilmt und abgehört. "Die Bundesregierung zeigt sich über den Fall höchst besorgt", berichtet die Bild.  Lius Wunsch, zur Behandlung zu Spezialisten nach Deutschland verlegt zu werden, respektiert China bislang nicht. "Nun behaupten die Ärzte, sein Gesundheitszustand habe sich extrem verschlechtert, dass ein Transport unmöglich sei." Deutsche Ärzte sehen eine Transportfähigkeit gegeben.  


9.6.2017

Forum Menschenrechte zur Bundestagswahl 

 

Ein paar gute Sätze sind im Forderungskatalog des „Forum Menschenrechte“ zur Wahl des Bundestags im September 2017  zu finden. Leider hapert es dann an der Analyse und ergo auch an den Forderungen, weil – wie üblich – störende Aspekte unter den Tisch fallen. Die Menschenrechte gelten für alle Menschen, unabhängig etwa von nationaler Herkunft oder politischer Überzeugung, heißt es eingangs im Katalog: „Eine menschenrechtliche Politik ermöglicht Freiheit – und setzt doch klare Grenzen gegenüber Gewalt. Rechtstaatlichkeit und Fakten dürfen nicht durch Hass, Diffamierungen und Lügen ersetzt werden. Staatliches Handeln muss sich an geprüften Tatsachen und den Menschenrechten orientieren. Rationale Argumente müssen weiterhin in der politischen Debatte zählen. Wir haben Erwartungen – an Deutschland und an ein Europa, die soziale Anker der Stabilität und Hort der Menschenrechte sind.“ Man sei aber besorgt „über das politische Klima in Deutschland, über schleichende Entwertung von Rechtstaatsgarantien“. Ursachen dafür werden nun nicht in den Auswüchsen verbaler und physischer Gewalt gegenüber neuen Bewerbern für den Bundestag oder in fragwürdigen Gerichtsurteilen sowie mutmaßlich verfassungswidrigen Gesetzes-initiativen gesucht, sondern: „Wir beobachten mit großer Beunruhigung, dass sich rechtspopulistische Gruppierungen im Aufwind befinden und das gesellschaftliche Klima vergiften.“ 

 

Löblich im Forderungskatalog, weil häufig vergessen: die mehrfach aufgeführte Forderung, Menschen mit Behinderung mehr Teilhabechancen zu eröffnen. Überwiegend geht es den Autoren dennoch um Rechte für Flüchtlinge und Migranten, denen jegliche Freiheiten eröffnet werden sollen; ohne Konsequenzen zu bedenken und bar jeder Forderung, dass es auch auf dieser Seite Pflichten zu erfüllen gilt. Gefordert wird zum Beispiel: Ein sofortiger Stopp von Abschiebungen in Krisenstaaten, die Einrichtung einer „zivilen europäischen Seenotrettung und legale Zugangswege in die EU“, die Beendigung der Einschränkung des Familiennachzugs, die Anerkennung von struktureller Diskriminierung von Minderheiten als Fluchtgrund, der Verzicht auf Röntgen- und Genitaluntersuchungen bei der Alterseinschätzung unbegleiteter Minderjähriger und: „Wer im Asylverfahren abgelehnt wird, jedoch aus humanitären und sonstigen Gründen nicht abgeschoben werden kann, soll in Deutschland bleiben dürfen und soziale Teilhabemöglichkeiten erhalten.“ 

 

Deutlich wird ebenfalls, dass sicherheitspolitische Erfordernisse – die sich auch aus dem tausendfachen Zuzug ungeklärter Identitäten ergeben – nicht erkannt werden: „Das Forum Menschenrechte respektiert das Schutzbedürfnis vieler Bürger*innen vor terroristischen Anschlägen, verlangt jedoch eine Verhältnismäßigkeit aller sicherheitspolitischen Entscheidungen.“ Gefordert wird, vor der Einführung neuer Befugnisse für Sicherheitsbehörden bestehende Regelungen „auf ihre Wirksamkeit oder Entbehrlichkeit“ zu überprüfen. Bundeswehr-Werbung bei Minderjährigen solle unterlassen werden, ebenso jede anlasslose (?), flächendeckende Überwachung. Die Sorge dabei: „Gesetzliche Regelungen zu Überwachungsmaßnahmen dürfen nicht zu einer weiteren Diskriminierung nach Staatsangehörigkeit beitragen.“ Immerhin will man eine angemessene Ausstattung der Polizeien. Richtigerweise heißt es auch: „Terroristische Angriffe sind keineswegs die einzige Gefahr für die Sicherheit der Menschen. Eine um die Sicherheit aller hier lebenden Menschen bemühte Politik muss auch die sonstige Gewalt in unserer Gesellschaft in den Blick nehmen und darf sich nicht auf Terrorgesetze und ordnungspolitische Maßnahmen beschränken.“ Zum besseren Schutz für Opfer von Gewalttaten lautet die Aufzählung: Frauen, Angehörige sexueller Minderheiten und Geflüchtete. Gewalttätige Übergriffe seitens von Flüchtlingen, auch gegen eigene Landsleute, fallen bei der „Analyse“ der Lage komplett unter den Tisch. Gesetzt den Fall, die genannten Forderungen würden umgesetzt, dann bliebe wohl aufgrund jetzt schon bestehender Überforderung bei Justiz, Polizei, Behörden und Bildungsinstitutionen von einem funktionierenden Gemeinwesen nicht mehr viel übrig. Ob Deutschland dann in diesem Zustand noch ein "Anker der sozialen Stabilität" und "Hort der Menschenrechte" bleiben kann?


8.6.2017

„Regulierte Meinungsfreiheit“

 

Kontrolle und Willkür lassen sich per kreativer Wortwahl gar lieblich verpacken: Die Humboldt-Viadrina kündigt eine Veranstaltung an unter dem Titel: „Regulierte Meinungsfreiheit: Sind Menschenrechte durch Algorithmen zu schützen?“ In der Ankündigung heißt es erst ganz richtig: „Mit Algorithmen können soziale Netzwerke aus einer Flut von Informationen genau die Nachrichten heraussuchen, die User interessieren. Gleichzeitig kann ein Algorithmus zum mächtigen Zensurinstrument umfunktioniert werden, indem bestimmte Nachrichten automatisch blockiert oder aus Suchergebnissen systematisch herausgefiltert werden.“ Das folgende Beispiel spricht dann Bände: „So wurde kürzlich etwa bekannt, dass YouTube – vermutlich versehentlich (!) – LGBT (Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender)-Videos in einem Filter für Kinder- und Jugendliche unterdrückte, weil die Algorithmen der Videoplattform die Beiträge als unangemessen für jüngere Zuschauer einstuften.“ Selbstverständlich von einer falschen Programmierung dieser Algorithmen ausgehend fragen diesbezüglich die Genderisten: „Wie also müssen Algorithmen beschaffen sein, um Menschenrechte im digitalen Raum wirksam zu schützen?“ Und: „Gibt es Bereiche in unserem Leben, in denen wir aus menschenrechtlichen Erwägungen auf den Einsatz von Algorithmen verzichten müssen?“ Die Instrumentalisierung der Menschenrechtsidee liegt auf der Hand. Die damaligen Verfasser der Menschenrechtserklärung hätten wohl eher gefragt: Wie können Algorithmen vor dem Zugriff von Aktivisten geschützt werden, die Kinder mit ihrem Sexualisierungswahn belästigen und indoktrinieren wollen?   

 

Zur Diskussion geladen sind unter anderen Ulrich Kelber, Staatssekretär im Bundesjustiz-ministerium, und Lorena Jaume-Palasí, Mitbegründerin von Algorithm Watch.


25.4.2017

Saudi-Arabien in der Frauenrechtskommission

 

Neben Entsetzen bei Menschenrechtlern über die Wahl Saudi-Arabiens in die UNO-Kommission für Frauenrechte gibt es auch andere Stimmen: Die frühere neuseeländische Ministerpräsidentin Helen Clark etwa begrüßte die Wahl mit der Begründung: „Es ist wichtig, jene im Land zu unterstützen, die sich um einen Wandel zugunsten der Frauen bemühen.“ Es gehe zwar langsam, aber die Dinge änderten sich. Dazu siehe man etwa hier: „Saudi-Arabiens Frauen begehren auf.“ Aus Clarks Einwand muss man nicht schließen, die machtpolitischen Spiele bei den Vereinten Nationen seien zu befürworten. Es bedeutet erst einmal nur, dass es nichts bringt, bei der Empörung stehen zu bleiben.  

 

Nachtrag vom 1.5.: Die Lage der Frauen in Saudi-Arabien ist nach wie vor schlimm bis tödlich, wie unter anderen die Emma über die verschwundene Dina Ali Lasloom berichtet. 


28.3.2017

Heiratsfähiges Alter: Null

 

Während man im hiesigen Bundesfamilienausschuss über Maßnahmen gegen Sexismus debattiert, damit aber keinesfalls die teils schweren sexuellen Übergriffe seit September 2015 thematisiert wissen will, sondern lieber nichtsnutzige Plauderrunden zu geschlechtersensibler Pädagogik, einer Ausweitung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes oder über die Zurückweisung von „limitierenden Geschlechterrollen“ bei Kindern führt, kursiert in Bangladesh gerade ein Gesetzentwurf, der vorsieht, das heiratsfähige Alter von Mädchen theoretisch auf null Jahre herabzusetzen, wie Focus berichtet. Auch nach Ansicht der einflussreichen, 40 Millionen Mitglieder starken indonesischen Muslimorganisation Nahdlatul Ulama (NU) ist die Verheiratung von Mädchen schon vor der ersten Menstruation, „sobald sie dazu fähig sind“, mit dem Koran vereinbar. „Es gebe im heiligen Buch des Islam keine Altersbeschränkung für die Ehe“, wird ein Beschluss der NU zitiert. Eineinhalb Jahre nach Erscheinen dieses Beitrags in der Welt (2010) traf sich derselbe NU-Vorsitzende mit Vertretern der Evangelischen und Katholischen Kirche zum Münchner Dialog der Kulturen. Dort hieß es dann, die NU versuche die liberale Auslegung des Islam in die Gesellschaft zu tragen. Die NU sei als Organisation des islamischen Intellektualismus zu unterstützen, meinte daraufhin Dr. Günther Beckstein in seiner Funktion als stv. EKD-Synodenpräses.


21.3.2017

„Helfer sind tabu.“ Was sind die Anderen?

 

Jetzt wurde in Gesetzesform gegossen, was aufmerksamen Beobachtern schon im Vorfeld problema-tisch erschienen sein mag. Im Februar startete die bundesweit beworbene Kampagne „Helfer sind tabu - Keine Gewalt gegen Einsatzkräfte“ von Arbeiter Samariter Bund, Deutsches Rotes Kreuz, Johanniter-Unfall-Hilfe, Malteser Hilfsdienst, Feuerwehr, Polizei und Rettungsdienstbehörden. Die Motivation ist klar angesichts der jüngsten Angriffe auf Rettungskräfte und Polizei. Dennoch impliziert dieser Aufruf, dass Andere, etwa Jugendliche, nicht tabu sind. Gewalttätige Angriffe gegen Personen können aber konsequenterweise wie menschenrechtlich begründet nur vollumfänglich zum Tabu erklärt werden. Dazu ist die regierende Politik offenbar nicht bereit:  

 

Privilegierung staatlicher Repräsentanten 

 

Ein Gesetzentwurf der Bundesregierung verlangt nun eine Änderung des Strafgesetzbuchs zur „Stärkung des Schutzes von Vollstreckungsbeamten und Rettungskräften“. Die Argumentation: „Kommt es während der Ausübung ihres Dienstes zu einem Angriff auf Vollstreckungsbeamte, werden sie nicht als Individualpersonen angegriffen, sondern als Repräsentanten der staatlichen Gewalt…Tätliche Angriffe auf sie mit dem ihnen innewohnenden erhöhten Gefährdungspotential für das Opfer sollen stärker sanktioniert werden.“ Außerdem soll der spezifische Unrechtsgehalt des Angriffs auf Repräsentanten der staatlichen Gewalt deutlich werden. „Respekt und Wertschätzung verdienen aber auch die Hilfskräfte der Feuerwehr, des Katastrophenschutzes und der Rettungs-dienste. Ein Angriff auf sie ist zugleich ein Angriff auf die öffentliche Sicherheit, da er zu einer Beeinträchtigung der Hilfeleistung führen kann. Die  vorgeschlagenen Änderungen werden daher auch auf sie übertragen.“ Geplant ist ein selbständiger Straftatbestand mit verschärftem Strafrahmen, um „das spezifische Unrecht des Angriffs“ zu betonen. Wie die Bundesregierung im Abschnitt „B. Lösung“ selbst schreibt, handelt es sich um geplante Privilegierungsregelungen für die genannten Personengruppen. Aus menschenrechtlicher Perspektive ist Privilegierung allenfalls haltbar in Bezug auf Nachteilsausgleiche, etwa für Menschen mit Behinderung. Ansonsten gilt laut AEMR: „Jeder hat Anspruch auf alle in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten, ohne irgendeinen Unter-schied, etwa nach…sonstigem Stand“ (Art. 2), „Jeder hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person“ (Art. 3) und „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich und haben ohne Unterschied Anspruch auf gleichen Schutz durch das Gesetz“ (Art. 7). Die allerorten praktisch betriebene Hierarchisierung in mehr und weniger schützenswerte Personengruppen missachtet eklatant die Grundzüge der Menschenrechtsidee und hinterlässt den Eindruck von Ungerechtigkeit.   

 

Die entsetzte Bundesrechtsanwaltskammer 

 

Bemerkenswert ist die Stellungnahme der Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) zum aktuellen Gesetzentwurf: Bereits 2011 gab es eine ähnliche Strafrechtsänderung, die auch Angehörige von Feuerwehr und Rettungsdiensten einbezog. Damals geäußerte kriminalpolitische Bedenken sowie dogmatische Ungereimtheiten fehlten gänzlich im aktuellen Entwurf. „Stattdessen verschärft die beabsichtigte Gesetzesänderung die bestehenden Probleme und schafft neue. Vor allem aber beinhaltet sie eine massive Ausweitung des Strafrechts, ohne dafür überzeugende Gründe aufzuzeigen.“ Denn die körperliche Integrität der Vollstreckungspersonen werde bereits ausreichend geschützt. Dass laut Gesetzentwurf auch „praktisch jede Unbotmäßigkeit gegenüber Vollstreckungsbeamten, die als Angriff auf deren Körper verstanden werden kann, wie etwa eine drohend erhobene Hand oder ein Anrempeln bzw. dessen Andeutung“ strafbar werden soll, hält die BRAK geradezu für absurd: Man könne nicht die potenzielle Gefährdung eines Menschen grundsätzlich stärker bestrafen als dessen vollendete Verletzung. „Auch die amtliche Funktion von Vollstreckungsbeamten…bildet dafür keine Rechtfertigung.“ Das Fazit: „Die erhöhten Strafdrohungen in Bezug auf solche Handlungen tragen zu einem Schutz vor ‚echten‘ Gewaltdelikten wie Körperverletzungen, Totschlag und Mord nichts bei.“ Aufgrund von Widersprüchlichkeiten und fehlendem kriminalpolitischen Bedürfnis könne man ferner schließen, dass mit dem geplanten Gesetz vor allem der Angriff auf das staatliche Gewaltmonopol als solches sanktioniert werden soll. „Diese Zielrichtung ist grundsätzlich fragwürdig.“ Das staatliche Gewaltmonopol sei selbst kein Rechtsgut und mithin kein Selbstzweck, der besonderen strafrechtlichen Schutz beanspruchen könnte. „Vielmehr wird der Staat zum Selbstzweck, wenn er um seiner selbst willen Respekt einfordert, zumal mit strafrechtlichen Mitteln. Eine solche Intention widerspricht dem Geist der Verfassung und lässt Gefahren für den demokratischen Prozess befürchten“; etwa dergestalt, dass wegen eines Einschüchterungseffektes die Teilnahme an Demonstrationen gemieden wird, um sich nicht dem Risiko der Strafverfolgung auszusetzen. Zu bedenken sei zudem der Ultima-ratio-Grundsatz: „Wird der Bereich des Strafbaren zu sehr ausgedehnt, gerät der Anspruch auf eine dem Legalitätsprinzip verpflichtete Strafverfolgung in Gefahr. Eine solche Entwicklung zeichnet sich bereits seit längerer Zeit ab. Sie wird durch die beabsichtigte verstärkte Kriminalisierung von Verhaltensweisen im Vorfeld von Rechtsgutsverletzungen verschärft.“ 

 

Verfälschter Menschenrechtsdiskurs

 

Während die BRAK den beabsichtigten „Sondertatbestand zum Schutz von Vollstreckungsbeamten“ auch im Hinblick auf Artikel 3 Grundgesetz problematisch sieht, ist nochmal auf die menschen-rechtliche Ebene abzuheben. Aaron Rhodes schrieb 2014 in der Zeit zur Einführung der Frauenquote in Aufsichtsräten: „Eine Gruppe zum Nachteil einer anderen zu privilegieren widerspricht nicht nur dem Rechtsstaatsprinzip, sondern auch den Menschenrechten. Dazu gehört die Gleichheit vor dem Gesetz, ohne Rücksicht auf Geschlecht, Herkunft, Religion oder Alter.“ Die Gleichheit vor dem Gesetz anderen Zielen opfern, schwäche Menschenrechte und damit den Schutz vor Tyrannei und Willkür. Gerade in Deutschland aber gebe es gute Gründe „skeptisch zu sein, wenn sich der Staat dazu versteigt, die Gesellschaft verändern zu wollen“. Der Menschenrechtsdiskurs werde nicht zuletzt durch „das verdrehte Konzept der positiven Diskriminierung“ aufgeweicht. Dabei habe es Erfahrung, Logik und Moral längst diskreditiert, warnte der Autor vor einem „rechtlichen Relativis-mus“, der Prinzipien stets so interpretiert, wie es gerade mit politischen Zielen konform geht. Es steht an vor der eigenen Haustür zu kehren, bevor man die Besen Staatsmännern anderer Länder in die Hand drückt, die mit Blick auf Etablierung einer Willkürherrschaft nur weniger subtil vorgehen.

 

Die konkreten geplanten Änderungen stehen im vorhergehenden Gesetzentwurf.

 

Nachtrag: Das Gesetz steht seit dem 23. Mai in dieser Fassung im Bundesgesetzblatt.


25.1.2017

Stopp der Kinderehe möglich (mehr zur Kinderehe)

 

Die Abschaffung der Kinderehe ist zumindest in einem Dorf in Nepal gelungen – dank der 21-jährigen Studentin Rohini Khaa. Mithilfe des „Child Club“, in dem Kinder lernen zu hinter-fragen, was für sie bisher selbstverständlich war, und in Form von Straßentheater wurde den Eltern erklärt, was sie ihren Töchtern mit Frühverheiratung antun. Überzeugte Eltern gingen dazu über, ihr Baby ins Geburtenregister eintragen zu lassen: weil nur so das tatsächliche Alter einer Braut nachweisbar ist. Rohini ist inzwischen Leiterin aller Child Clubs in der Region. Inzwischen gehen alle Kinder in ihrem Dorf Tetariya zur Schule, Neugeborene werden registriert und es gibt keine Kinderehen mehr. „Tetariya setzt damit in ganz Nepal Maßstäbe, Rohini und ihr Club wurden im März 2016 von der nepalesischen Regierung ausgezeichnet“, so der Bericht.

 

Nachtrag vom 3.7.2018: Aufschrei in Malaysia - 41-Jähriger heiratet Elfjährige. Eine seiner anderen Gattinnen erstattete Anzeige bei der Polizei. "Was folgte, war ein öffentlicher Aufschrei sowie Forderungen nach einem Verbot der Praxis von Kinderbräuten."

 

Nachtrag vom 5.7.2018: Zum behördlichen Umgang mit Kinderehe: siehe diese Antwort.

 

Nachtrag vom 15.8.2020: "Bundesgerichtshof zur Kinderehe - Nicht jede Ehe mit einer 16-Jährigen muss beendet werden - Kinderehen mit 16- oder 17-Jährigen wären nach einem Gesetz von 2017 eigentlich aufzuheben. Der BGH stellt jetzt klar: Es kommt auf den Einzelfall an."


19.1.2017

Wer ist Zivilgesellschaft?

 

Die Bundesregierung hat gerade ihren Zwölften Bericht über ihre Menschenrechtspolitik (2014 bis 2016) vorgelegt. Was dort im Brennpunkt „Einschränkungen des Handlungsspielraums für die Zivilgesellschaft“ – im Fachjargon „Shrinking Space“ (to shrink = schrumpfen) genannt – ab Seite 109 geschrieben steht, wird wohl von jenen kritischen Bloggern, die hierzulande gegen politmedial verordnete Ansichten anschreiben und sich angesichts der nebulösen Hatespeech-Agitation um den freien Meinungsaustausch sorgen, nur als reine Maskerade aufgefasst werden. „Eine aktive, handlungsfähige Zivilgesellschaft ist Voraussetzung für konstruktive Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft“, ist im Bericht zu lesen, wobei von besonderer Bedeutung die Rechte auf Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit und Mitwirkung an öffentlichen Angelegenheiten sei. Die Bundesregierung sorgt sich nun ihrerseits um den zunehmenden Versuch von Regierungen „in autoritären Regimen“, die Aktivitäten von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) einzuschränken. „Unklare oder weit ausgelegte Verbotstatbestände im Zusammenspiel mit einer nicht unabhängigen Justiz tragen in vielen Ländern zu einem Klima der Verunsicherung und Einschüchterung bei.“ Dabei dienten Begriffe wie öffentliches Interesse oder Majestätsbeleidigung als Begründung, „um regierungskritische Stimmen zu unterdrücken“. Deshalb trete die Bundesregierung „jeglichen Versuchen entgegen, die Beteiligung der Zivilgesellschaft in internationalen Foren einzuschränken“. 

 

Zu den Prioritäten der Menschenrechtspolitik 2017 bis 2018 gehöre laut Aussagen ab Seite 183 das Eintreten für Meinungsfreiheit. Die Bundesregierung werde Verletzungen dieser Freiheit kritisch aufgreifen. „Hierzu gehört auch die Verteidigung eines freien und offen zugänglichen Internets, insbesondere angesichts der Zunahme von Zensur und Überwachung in autoritären Regimen.“ Weltweit wolle man gegen Verfolgung von Journalisten eintreten. „Besondere Bedeutung kommt der Unterstützung und dem Schutz von unabhängigen Medien und Medienmachern zu, die durch ihre Arbeit Missstände aufzeigen und gesellschaftliche Diskussionen befördern.“ Die widersprüchliche Einschränkung steht im letzten Abschnitt: „Sie wird sich außerdem für den freien Austausch von Ideen und Informationen und den Schutz vor Überwachung und vor Hassrede im digitalen Raum einsetzen.“ Prägendes Element der hiesigen Hatespeech-Agitation mit beabsichtigter Gesetzesvorlage ist ja nun gerade der „unklare oder weit ausgelegte Verbotstatbestand“, dem man vorgeblich entgegen-treten will. Der Widerspruch ist erklärbar, wenn man davon ausgeht, dass die Verteidigung des Handlungsspielraums für die Zivilgesellschaft sowie eines freien Internets ausschließlich zugunsten einer willkürlichen Definition zivilgesellschaftlicher Akteure betrieben wird – die kritische Blogger im eigenen Land nicht umfasst. Sprich: Nur NGOs, die übrigens selbst ständig vorgeben Vertreter der Zivilgesellschaft zu sein, sind diejenigen, deren Rechte verteidigt werden. Da die Arbeit dieser Vereine im Wesentlichen mit der herrschenden Politik im Einklang steht und im Gegenzug großzügig unterstützt wird, ist der wohlformulierte Aufruf der Bundesregie-rung zur Verteidigung der Zivilgesellschaft nichts weiter als eine Parade der eigenen betriebenen Politik. In der Klassischen Antike war Zivilgesellschaft noch Synonym für ideale Lebensweise von freien Bürgern. Zu heutigen Dimensionen von Zivilgesellschaft siehe hier bei der BpB.  


5.1.2017

Mutige Frauen im Irak

 

Das Frauenradio Dange Nwe, das im Nordirak gegen tradierte Moralvorstellungen ankämpft, bekommt laut Deutschland Radio Kultur den Raif-Badawi-Preis für couragierten Journalismus. Öffentlich thematisiert werden etwa häusliche Gewalt, Missstände in der Stadt oder Genitalverstüm-melung. Und Geflüchtete bekommen dort Raum, sich etwa über arabische Länder zu beschweren: „Wir sind Sunniten, warum helfen die dortigen Regierungen uns nicht?“ Die Radiomacherinnen sind durch ihre Arbeit im öffentlichen Raum erheblichem Druck ausgesetzt: „Nicht einmal vor meiner kleinen Tochter machen sie Halt. Sie wird in der Schule schikaniert wegen meiner Arbeit, andere Kinder bezeichnen sie als kleine Christin“, sagt eine von ihnen. Ihr Mut ist schon bemerkenswert.