24.12.2016

Religion als Angebot

 

„Unser Junge war nie religiös“, zitiert n-tv die Mutter des Attentäters Anis Amri. Das war auch nicht anzunehmen. Gewalt und Aggression liegt im jeweiligen Menschen begründet und nicht in der Religion, verstanden als Rückbindung an die Schöpfung. Eine aufschlussreiche Analyse dazu bietet ein Interview in der Zeit vom März 2005 mit dem Religionsphilosophen René Girard (1923-2015), der eine klare Grenze zieht zwischen nichtarchaischer und archaisch verstandener Religion. „Der gesamte Geist unserer religiösen Kultur opponiert gegen das gewaltsame Opfer und eine vermeintlich heilige Gewalt“, befand er, während archaische Religion das „Blutopfer und Sündenbocksystem“ zelebriert. Girard erinnerte sich an Zeiten, „in denen die Politik in Religion umschlug, zum Beispiel im Kommunismus“. Der radikale Islamismus habe „Ähnlichkeiten mit älteren Bewegungen, die die Politik theologisierten, und das empfinde ich als äußerst bedrohlich“.

 

Der Religionsphilosoph geht von einem Gewaltkern im Menschen selbst aus. Dieser wehre sich heftig gegen eine Religion, die Gewaltanwendung verbietet, bezieht er sich auf das Christentum: „Derjenige, der uns die eigene Gewalt vor Augen führt und enthüllt, sitzt plötzlich auf der Anklagebank.“ Deshalb sei das Christentum der perfekte Sündenbock. „Auch Jesus war ein freiwilliger Sündenbock. Er hat uns eine Religion hinterlassen, die den Gewalt- und Opfer-mechanismus in unserem Zusammenleben bloßgelegt hat. Deshalb provoziert er die Menschen, die christliche Religion auf alle mögliche Art und Weise zu leugnen und zu Grabe zu tragen.“ Der dahinter stehende Mechanismus hat offenbar bei etlichen Menschen bis heute keinerlei Emanzipation erfahren. Missstände werden verleugnet, Überbringer unangenehmer Botschaften als Sündenböcke instrumentalisiert. Im Grunde alles nur einer hochmütig begründeten Eitelkeit wegen. Dabei könnte man diesem Hochmut, der ja letztendlich doch nur Unwohlsein verursacht, mittels nichtarchaischer Religionen durchaus wirkungsvoll begegnen. Das Angebot steht.  


11.11.2016

Kirchenobere verstecken ihr Kreuz

 

Das gehört festgehalten: Erst legen die Vorsitzenden der beiden großen Kirchen Heinrich Bedford-Strohm und Reinhard Marx beim Besuch der Al-Aksa-Moschee und der jüdischen Klagemauer ihre Kreuze ab. Auf Kritik erklärt Bedford-Strohm, muslimische und jüdische Begleiter hätten darum gebeten die Kreuze nicht offen zu tragen, um nicht zu provozieren. Jetzt weist der israelische Militär-sprecher Arye Sharuz Shalicar empört zurück, dass es von jüdischer Seite die Bitte gegeben hat: „Ich fordere Sie hiermit auf, es öffentlich zu machen, welcher Sicherheitsdienst von jüdischer Seite aus bei Ihrem Besuch der Klagemauer in Jerusalem“ dies gefordert haben soll. Schließlich sei es schon peinlich genug, vor „radikal-arabisch-muslimischen Gastgebern auf dem Felsendom“ einzuknicken.

 

Seitens EKD wird nun getan, was jahrelang eingeübt: man gibt sich politisch korrekt, sprich: man transformiert die Sachfrage von Shalicar in eine „polemisch geführte Debatte“ und einen „inszenierten Kulturkampf“, obwohl es doch um „Respekt“ und „Zurückhaltung“ gehen müsse. Im Übrigen sei die Aufforderung die Kreuze abzunehmen nicht durch Sicherheitskräfte, sondern durch dortige Vertreter der Religionen erfolgt. Freilich schwer nachweisbar. Dafür könnte eine Meldung von 2007 sprechen: Ein Rabbiner verweigert einer Gruppe österreichischer Bischöfe den Zutritt zur Klagemauer, weil sie ihre Amtskreuze nicht verbergen wollten. Bis 2014 allerdings schien man dort einen toleranteren Umgang zu pflegen: Papst Franziskus steht mit offen getragenem Kreuz im Beisein eines Rabbiners und eines Islamgelehrten an der Klagemauer – wie auf diesem Bild zu sehen. Ist nun der Papst respektlos? 


20.8.2016

„Vorauseilende Niveauabsenkung“  

 

Über den „Spaß am Kulturverfall“, die „Lust an der Indiskretion“ und um „grobe Verwirrungen“ ging es  beim Philosophischen Quartett am 26. September 2010: „Formlos, haltlos, respektlos. Wie das öffentliche Leben verkommt.“ Eine durchaus auch heute noch erhellende Diskussion, die man sich hier bei Youtube zu Gemüte führen kann.


6.8.2016

Überlegenheit durch Verweigerung

 

Auch eine Art sich zu wehren: „Ein anderes Mal, während jemand eine Rede hielt, soll Diogenes abseits gestanden sein und beharrlich einen gesalzenen Fisch in die Höhe gehalten haben. Als sich immer mehr Menschen von dem Redner ab- und Diogenes zuwandten, meinte dieser, dass es wohl eine belanglose Rede sein müsse, wenn ein Pökelfisch mehr Interesse wecken könne als die gelehrte Philosophie.“ Weitere Verhaltensanregungen mit dem Ziel, ein „fortwährendes öffentliches Ärgernis” zu sein, gibt es im Internet.


21.7.2016

Individualismus: Bedingung für ausgewogene Gesellschaft

 

Laut Ausschreibung der Berliner Lettrétage ging es vorgestern bei den Ibn Rushd Lectures um ein Thema, ohne das Integrationsdebatten eigentlich gar nicht geführt werden können. Der tunesische Philosoph Adel Mtimet referierte zur Frage: „Verhindert die arabische Kultur die Umsetzung der Demokratie als Staatsform in arabischen Ländern? Gibt es in der arabischen Kultur die Voraussetzungen für ein Dasein als Individuum, oder sind politische sowie moralische Individualität und arabische Kultur Widersprüche in sich?“ 

 

Im Vorabtext bemängelt Mtimet die fehlende Tiefe und Sorgfalt arabischer Denker, die Demokratie und Modernität anstreben, aber „diese imminent wichtige Frage außer Acht“ lassen; vielleicht, weil sie selbst innerlich frei sind. Die Forderung nach Individualismus solle sich aber nicht auf die Elite beschränken, sondern die gesamte Gesellschaft und die Kultur im Allgemeinen einschließen. Im Sinne des kantischen autonomen Individuums, das Unmündigkeit überwunden hat, sei Autonomie unentbehrliche Bedingung für Demokratie und modernes Denken und dies wiederum „Voraussetzung zum Aufbau von stabilen und ausgewogenen Gesellschaften“. Und letztlich gehe es auch um „Aufrichtigkeit“ beim Reden von Moderne und Demokratie. Soweit zum Diskussionspapier.

 

Tatsächlich könnte der positiv verstandene, verantwortungsbewusste respektive zur Selbstbeschränkung fähige Individualismus – im Übrigen auch bestmöglicher Garant für Freiheit statt Abhängigkeit in sozialen Beziehungen – ein Angelpunkt in Integrationsdebatten sein. Ohne seine Würdigung wird zumindest jedwede Sortierung der gesellschaftlichen Gegebenheiten in kastenähnlichen Zementierungen enden. Aber auch der Zulauf zu latent bis hoch aggressiven Gruppierungen, in denen der Einzelne auf- beziehungsweise untergeht, wird sonst weiterhin stattfinden, ohne den Versprechen dieser „Gemeinschaften“ ausreichend konkurrenzfähige Alternativen entgegenzusetzen. Leider erfreut sich die autonome Individualität – obwohl wesentliches Ergebnis europäischer Aufklärung – weder in der arabischen noch in der deutschen Welt, dort trotz unaufrichtiger Beteuerungen, besonderer Beliebtheit. Es ist ja noch nicht einmal mehr möglich einen Sachverhalt zu kommentieren, ohne von kollektivfetischistischen Gesinnungsaktivisten einer Gruppe zugeordnet zu werden. Dabei geht es den Aktivisten hier wie dort vielleicht gar nicht wirklich um die Gesinnung. John Stuart Mill brachte es auf den Punkt: „Was die Individualität vernichtet ist Herrschsucht, gleich welchen Namen man wählt.“

 

Nachtrag in puncto Alternativen entgegensetzen: "Einer Religion, die tötet, wird nur eine Religion, die den Gewaltverzicht" lebt, standhalten: Eine christliche Sicht von J. Röser  


15.7.2016

Kirchen: „Offene Gesprächsverweigerung“

 

Klartext zur Situation geflüchteter Christen in deutschen Unterkünften gibt es gerade wieder beim Onlinemagazin Idea zu lesen. Nachdem die Kirchenspitzen Drangsalierungen inklusive Todesdrohungen gegenüber ihrer eigenen Klientel bagatellisierten, sagt nun der Berliner Pfarrer Gottfried Martens: „Die Stellungnahme der beiden großen Kirchen ist das Ergebnis einer offenen Gesprächsverweigerung gegenüber den Opfern von religiös motivierten Übergriffen in den Unterkünften.“ Man sei dort „offenkundig darauf aus, die Probleme der bedrohten religiösen Minderheiten auszusitzen“; es kämen schon kaum noch christliche Flüchtlinge an. Martens steht mit seinen Beobachtungen nicht alleine, wie etwa dieser Bericht in der Welt zu „fäkalen Missständen“ und weiteren Unsäglichkeiten aufzeigt.   


31.5.2016

Versäumnis mit Folgen

 

Nachdem amtierende Bischöfe der beiden großen Kirchen sowie diverse Zeitungen die Studie des christlichen Hilfswerks Open Doors zu Übergriffen auf christliche Flüchtlinge in die unseriöse Ecke drängten, warnt jetzt der Vorsitzende der Christlichen Polizeivereinigung (CPV) Holger Clas davor, wegen möglicher Schwächen der Studie das Thema zu verharmlosen. „Zu glauben, dass die islamischen Flüchtlinge mit der Ankunft in Deutschland automatisch die Werte des deutschen Grundgesetzes übernähmen, sei naiv“, zitiert ihn das Magazin idea. Laut Erfahrungen der Polizisten vor Ort sei die Bedrohung religiöser Minderheiten durch Muslime real, hieß es auch beim CPV-Bundestreffen. Ihre „Beobachtungen decken sich mit den Kernaussagen" der Studie. Indessen erinnerte der Zentralrat Orientalischer Christen in Deutschland an die ARD-Dokumentation „Syrische Christen in Not“ aus dem Jahr 2013, in der sie bereits auf die Angriffe hinwiesen. Für eine effektivere Kommunikation wolle man künftig mit Open Doors kooperieren. 

 

Zur Sachlage bringt die Welt einen lesenswerten, weil sehr differenzierenden Beitrag, der auch auf die Folgen der unverantwortlichen Verharmlosung für die bedrohten Christen eingeht. Man darf sich schon darüber wundern, dass sich die Kirchenleitungen im Rahmen dieser nur schwer beweisbaren Lage partout nicht auf den assoziierenden Menschenverstand verlassen wollen und in der Folge den Täterschutz bestärken. In einem Fall von acht ermordeten Christen in Pakistan 2009 beschrieb der Bischof Joseph Coutts ein ganz ähnliches, von Bequemlichkeit und Feigheit bestimmtes Vorgehen seitens Verantwortlicher. Gegenüber „Kirche in Not“ beklagte er, dass es „die örtlichen Behörden versäumt hätten, gegen die Ursachen der Gewaltausbrüche vorzugehen. Die Ausschreitungen hätten sich für jedermann sichtbar bereits seit längerem angebahnt“. Während der Angriffe sei die Polizei viel zu spät und nur halbherzig gegen die Gewalttäter vorgegangen. „Im Nachhinein erhalten wir nun von den Behörden Beileidsbekundungen, Entschuldigungen und Versprechungen für eine bessere Zukunft“, so der Bischof – anstatt von angemessenem Schutz und „Vorkehrungen, damit so etwas nicht noch einmal geschieht“.  


18.4.2016

Bewundernswerte Stärke

 

Es ist mir ein Bedürfnis, diese Woche mit einer positiven Meldung zu beginnen. Die Angelegenheit habe ich immer wieder mal verfolgt, weil es mich interessiert, wie ein konstruktiver Umgang nach diesem Schicksalsschlag noch möglich ist. Es geht um die verunglückte Stabhochspringerin Kira Grünberg, die immer noch gelähmt, aber trotzdem guten Mutes ist - und das mit einer erstaunlichen Beharrlichkeit. Es tut jedes Mal richtig gut, über sie zu lesen und dadurch auch an das Menschen innewohnende Potenzial erinnert zu werden. Aktuell hat die Welt die Kraftspenderin besucht und berichtet hier darüber.       


11.3.2016

Moralschmarotzer

 

Eine Geschichte, die ich gestern gelesen habe, lässt mich ratlos, sogar auch verärgert zurück: „Der opferwillige Freund.“ Oscar Wilde skizziert darin ein – sorry – Riesenarschloch. Einen, der seinen herzensguten Nachbarn nach Strich und Faden ausnutzt und ihm während dessen ständig was von wahrer Freundschaft ins Ohr säuselt. Einen, der seine Heuchelei sein Leben lang durchzieht und trotzdem von seiner dümmlichen Frau bewundert wird. Auch sein öffentliches Standing erleidet nicht den kleinsten Kratzer trotz seines verabscheuungswürdigen Verhaltens. Sein opferwilliger „Freund“ freilich, der sich von schöngeistiger Rede bis hin zur Selbstaufgabe beeindrucken lässt, hat sein Urteilsvermögen fahrlässig aufgegeben. Das mag ihm zwar vorzu-werfen sein. Zumindest aber schadet er damit erst mal nur sich selbst. Systemisch betrachtet wäre die Sache differenzierter zu bewerten. Die Geschichte mag in der Realitätsübertragung überzogen sein. Dennoch charakterisiert sie treffend den schamlosen Typus Mensch, der sich trotz gegensätzlicher Absichten verbal moralisch erhebt. Und sie skizziert das teils unbedarfte, teils phlegmatische Umfeld, das solch einem Moralschmarotzer das geeignete Podium bietet. Insbesondere die Einwürfe über die Macht rhetorischer Überlegenheit in einer sprach- und gedankenlos gewordenen Umwelt bieten Parallelen zum Hier und Heute. „Der opferwillige Freund“ ist hier eingestellt. Tipp: Den Text mit der Maus markieren, dann ist er besser lesbar. 


5.3.2016

„Höherer Blödsinn“

 

Bei einer Recherche stieß ich auf den guten alten Kraepelin. Eine Veröffentlichung von ihm im Jahr 1896 ist so schön formuliert, dass ich dies hier kundgebe: „Sie begnügen sich überall mit dem ersten Anschein, schweifen sofort ab, sind mit der Betrachtung fertig, bevor sie noch recht angefangen haben. Der flüchtig und oberflächlich erfasste Inhalt ihrer Erfahrungen ist daher in hohem Maaße von zufälligen Einflüssen abhängig und bietet nur ein lückenhaftes, vielfach stark verzerrtes Bild der Außenwelt. Aus diesen Bestandteilen setzen sich dehnbare, verschwommene, vielfach verfälschte Begriffe zusammen, welche die Grundlage für schiefe und halbrichtige Urtheile sowie für abenteuerliche Analogieschlüsse abgeben.“ Die Lebens- und Weltanschauung werde dadurch unabhängig von der Wirklichkeit. „Wichtige und maaßgebende Thatsachen haben für sie gar kein Gewicht, üben auf ihre Ueberlegungen nicht den geringsten Einfluss, während sie andererseits ernsthaft mit Verhältnissen rechnen, die nur in ihrer Einbildung bestehen.“

 

Die „angebliche tiefe Kenntnis der hohen Politik“ werde mit der Angabe begründet, dass ein Verwandter ein „Aufseher auf einem Gute Herbert Bismarcks“ sei. „Diese unbekümmerte Vernachlässigung der Wirklichkeit, die Freiheit von dem unbequemen Ballaste der Bedenken und Ueberlegungen, giebt dem Gedankengange etwas eigentümlich Zerfahrenes und Widerspruchsvolles.“ Ohne Zögern würden heute diese, morgen jene Anschauungen entwickelt, man „stützt sich im gleichen Satze auf Gründe, die einander ausschließen, fertigt Einwände siegesgewiss mit ganz unzutreffenden Schlagworten ab. Auch hier ist in der Regel trotz aller anscheinenden geistigen Beweglichkeit die häufige Wiederkehr bestimmter hochtrabender Redensarten und schwülstiger Gemeinplätze sehr deutlich.“

 

Dabei bringe er „die verschiedensten Dinge durcheinander, berauscht sich förmlich an seinen eigenen klingenden Phrasen und schließt plötzlich unvermittelt mit einer rednerischen Frage oder einer sonstigen, besonders schlagenden Wendung“. Trotzdem pflege die Zungengewandtheit „und der tönende Wortschwall, mit dem sie den Zuhörer überschütten, häufig genug den Unerfahrenen über die Unsinnigkeit und Zerfahrenheit des Inhaltes ihrer Reden zu täuschen, so dass sie nicht als schwachsinnig, sondern sogar als besonders schlau angesehen werden“. Stets aber pflegten sie „trotz der schlagendsten Gegenbeweise an der Richtigkeit ihrer noch dazu vielfach wechselnden, sich selbst widersprechenden Erzählungen festzuhalten und mit der Miene der gekränkten Unschuld jede weitere Erörterung abzulehnen“. Das Selbstgefühl sei ungemein gesteigert. „Sie zeigen keine Spur von Krankheitsbewusstsein, halten sich im Gegentheil für geistig hochbegabt, ja genial.“ Gudden habe solche Zustände scherzweise als „höheren Blödsinn“ bezeichnet.

 

Kraepelin beschrieb damit keine politische Dystopie, wie manch einer vielleicht vermutet, sondern die lebhafte Form der Imbecillität; gerne hier zum Vertiefen.


2.3.2016

Über die Höhe und den Fall

 

Lange Zeit im Bücherregal, endlich gelesen: "Der Fall" von Albert Camus. Die schonungslose Beichte eines untergetauchten Staranwalts liest sich aus heutiger Perspektive durchaus auch als Charakterstudie über die eine oder andere Person des öffentlichen Lebens. Kostproben: "Mein Beruf befriedigte zum Glück dieses Bedürfnis nach Höhe." Er stellte mich "über den Angeklagten, den ich zur Dankbarkeit zwang...Ich lebte ungestraft. Kein Urteil berührte mich je, befand ich mich doch nicht auf der Bühne des Gerichts, sondern irgendwo in den Soffitten, jenen Göttern gleich, die man von Zeit zu Zeit herunterlässt, damit sie der Handlung die entscheidende Wendung und ihren Sinn verleihen. Schließlich und endlich ist das erhöhte Leben noch die einzige Art, von einem möglichst zahlreichen Publikum gesehen und beklatscht zu werden. Manche meiner gutartigen Mörder hatten übrigens bei ihrer Tat ähnlichen Gefühlen gehorcht." 

 

Oder an späterer Stelle: "Hauptsache ist, dass man sich erbosen kann, ohne dem anderen das Recht zur Entgegnung zuzugestehen. 'Seinem Vater widerspricht man nicht' - Sie kennen diesen Grundsatz?" Camus bietet auch eine Anleitung dafür, sich dem persönlichen Urteil der Anderen zu entziehen. "Denn besteht das große Hindernis, das es uns unmöglich macht, ihm zu entgehen, nicht gerade darin, dass wir die Ersten sind, uns zu verurteilen? Darum muss man als Erstes die Verurteilung unterschiedslos auf alle ausdehnen, um sie dadurch bereits zu verwässern...Ich lasse nichts gelten, weder die wohlmeinende Absicht noch den achtbaren Irrtum...In der Philosophie wie in der Politik bin ich somit Anhänger einer jeden Theorie, die dem Menschen die Unschuld abspricht, und einer jeden Praxis, die ihn als Schuldigen behandelt. Sie sehen in mir einen aufgeklärten Befürworter der Knechtschaft."

 

"Der Fall" erschien 1956, im folgenden Jahr wurde er mit dem Literaturnobelpreis bedacht.


26.2.2016

Lust auf Tiefgang

 

Im aktuellen Kommentar der Redaktion von Christ in der Gegenwart geht es - in Anlehnung an den Zukunftsroman "Unterwerfung" von Michel Houellebecq über die fiktive Machtübernahme des Islam in Frankreich 2022 - über das Christentum, das sich "aufgrund von Langeweile, Desinteresse, Apathie, Gedankenlosigkeit und Geistlosigkeit" schleichend selbst aufgibt. Die Unterwerfung sei "kein schwerer Akt, überhaupt nicht anstrengend, vielmehr leicht, bequem, praktisch". Einmal mehr sehe ich mich erinnert an den Film „Die Zeitmaschine“ von 1960. Es blieb mir jene Szene am deutlichsten in Erinnerung, in der die Zukunftsmenschen des Volkes Eloi, zwar nett und hübsch anzusehen, sich aber völlig verdummt ausschließlich hedonistischen Trieben hingeben und die letzten existierenden Bücher einfach vergammeln lassen. Was oben erläutert ist, betrifft nicht nur das Christentum. Sei es das unvernünftige Agieren in der Politik oder die vielerorts oberflächliche Kommunikation: Tiefgang wird schon jetzt eher als lästige Anstrengung, denn als Sinn gebende Bereicherung für die Lebensintensität betrachtet. Kulturen können sich tatsächlich zurückentwickeln, wie kürzlich in einem Wissenschaftsmagazin stand. Umso mehr gilt es, für die Lust auf tiefgängige Gespräche zu motivieren; wann und wo immer es passt und auch um den Preis, dann als Spielverderber stigmatisiert zu sein. Man darf das dann nicht so ernst nehmen – Gedankenlosigkeit produziert nur kalte Luft. 


6.2.2016

Gewissenlose: Jemals herzlich gelacht?

 

An dieser Stelle möchte ich auf eine Aussage eingehen, die mich berührt hat. Manfred Haferburg schreibt auf Achgut: „Das ist es, was am meisten weh tut: Das mangelnde Schuldbewusstsein der Machthaber und ihrer Vasallen.“ Im Internet lassen sich zahlreiche Erläuterungen finden, was es mit Menschen ohne (funktionierendes) Gewissen oder Reueempfindung auf sich hat. Da ich bei mir selbst bleiben will, stellte ich mir, vorerst jenseits der Politik, folgende Fragen: Habe ich begriffen und akzeptiert, dass es solche Menschen unter uns gibt? Führen mich Gewissen und Reue auch generell zu tieferer Lebensintensität? Und warum wollte ich des Weiteren niemals mit gewissenlosen Menschen tauschen? Schließlich fiel mir dann noch eine Aussage des Pastors Arnold Muggli ein: „Täuschen wir uns nicht: Jeder ist an seinem Ort, so unbedeutend seine Stellung im Räderwerk der Welt auch sein mag, entweder ein Teil der Gesundung oder ein Teil der Krankheit der Welt.“ Mir reicht das, um mich, vorerst jenseits der Politik, gut zu fühlen.


3.2.2016

Angst: Mediale Invalidierung

 

"Angst ist ein schlechter Ratgeber": Das Sprichwort, laut einigen Quellen aus England stammend, feiert Urständ: in Talkshows, in Reden der Bundeskanzlerin, in politischen Phrasen. Tatsächlich ist es eine sinnwidrige Plattitüde. Angst ist eine menschliche Reaktion, die man nicht im Buchhandel kaufen kann und die immer begründet ist. Die Frage ist nur, ob sie das aus missglückter Vergangenheitsbewältigung, aus gesellschaftlicher Ansteckung oder aus realitätsbezogener Faktenanalyse heraus ist. Letzteres wird derzeit besorgten Bürgern von den öffentlichen Meinungsmachern mir nichts, dir nichts abgesprochen. Bei jenen, die – aus welchen Gründen auch immer – ihrer eigenen Wahrnehmung weniger trauen als der veröffentlichten Meinung, kann sich das auswirken. In der Psychiatrie gibt es den Begriff der emotionalen Invalidierung. Wer invalidiert, der wertet ab, erklärt etwas für ungültig oder bestraft zum Beispiel durch subtile Androhung, als "Verrückter" nicht zur Gemeinschaft zu gehören. Gefühle und Gedanken werden missachtet mit der Folge etwa bei einem Kind, dass es eine Störung der Emotionsregulation entwickelt. Eine weitere Folge kann übertriebene Abhängigkeit vom Feedback anderer Menschen sein. Nur dadurch ist die hilfsweise Konstruktion eines Selbstbildes möglich. Eigenständig erarbeitete Wertungen fließen aufgrund der Verunsicherung nicht mit ein. Machthaber stören sich an solch manipulierbaren Persönlichkeiten vermutlich nicht.

 

"Angst verleiht Flügel":  Ein Sprichwort, laut einigen Quellen aus Deutschland stammend, formuliert allerdings von Gustave Flaubert (1821-1880). Ängste sind demnach Startsignal fürs Handeln, Kraftquelle für Leistungen, die ohne Angst nicht greifbar geworden wäre. Intendant Friedrich Schirmer sagte es 2005 dem Tagesspiegel so: "Ich habe gelernt, die Kraft, die in der Angst steckt, anzuzapfen, das Potenzial zu nützen und mich nicht lähmen zu lassen." Es ist der Gegenpart von der Rede der Angst als schlechter Ratgeber. Man darf zweifeln, ob diese Weisheit vom anderen Ende der Skala in der jetzigen gesellschaftlichen Situation hilfreich ist. Die passende Einstellung zur Sachlage ist vielleicht auf der bisherigen Messskala gar nicht zu finden. Wer sich aus der schwarzweißen Denkkategorie hinaus begibt, trifft zum Beispiel auf den italienischen Autor Alberto Moravia: "Der Unwissende hat Mut, der Wissende hat Angst."


30.1.2016

Begabte: Draußen vor der Schule 

 

Ginge es nach der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, dann müsste die Bildung "auf die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit" aller Schüler gerichtet sein. Unter den Umständen, die in diesem Brandbrief von Eltern einer Grundschule erläutert sind, liegt dieses Menschenrecht allenfalls zerknüllt im Papierkorb. Es darf durchaus mal für einen Moment spekuliert werden, ob ein Nebeneffekt davon so manchen Zeitgenossen ganz gut ins Konzept passt. Ob es etwa jenen entgegenkommt, die immer noch von dem Wunsch nach Ausgrenzung von Akademikerkindern ergriffen sind. Eine weitere diesbezügliche Anregung bietet Arthur Schopenhauer: "Wo und wie auch immer das Vortreffliche auftritt; gleich ist die gesamte Mittelmäßigkeit verbündet und verschworen, es zu ersticken."


28.1.2016

Kognitive Faulheit

 

Die Sonne bringt es an den Tag, wenigstens ab und zu: Erst flog auf, dass ein Politiker der Linken eine Messerattacke eines Rechtsradikalen offenbar erfunden hat (Staatsanwaltschaft ermittelt, während Medien in diesem Fall gerne dösen)*, dann erfährt die Öffentlichkeit, dass der Tod eines Flüchtlings in Berlin frei erfunden war. Mich selbst erstaunt das nicht, da mir im Laufe des Lebens, vor allem im früheren politischen Umfeld, schon viele dreiste Lügner, auch mit Schlips und Kragen, über den Weg liefen. Beschäftigt aber hat mich vorwiegend die Frage, warum so viele Menschen dem Lügner glauben wollen, ja ihn sogar hofieren. Freilich: auch immer eine situationsspezifische Angelegenheit. Abgesehen davon scheint unstrittig zu sein, was eine australische Studie besagt: Die Zurückweisung einer Information benötigt eine höhere kognitive Anstrengung als die Akzeptanz einer Auskunft. Solcherart kognitiv faule Menschen nun sind mir vollkommen fremd. Viel fremder als jene Flüchtlinge, die tatsächlich als Schutzsuchende kommen und sich hier integrieren wollen. Nicht Armut versus Reichtum, sondern Lüge versus Ehrlichkeit ist das Spannungsfeld, das vorrangig bearbeitet gehört. Erst dann kann man auf anderen Ebenen effektive Ergebnisse erzielen. 

 

*Siehe dazu den Beitrag vom 11.1.2016 auf dieser Seite.    


25.1.2016

Dringend benötigt: Eine gute Nachricht, irgendeine

 

Für heute Abend will ich mich zufrieden geben mit der erstbesten guten Nachricht, die mir über den Weg lief: Mark Ruffalo - er spielte den "Hulk" - hat in New York Handy und Geldbeutel verloren. Kaum eine Suchmeldung getwittert und schon meldeten sich zwei kleine Mädels mit ihrem entsprechenden Fund. Sie bekamen 100 Dollar für ihre Ehrlichkeit und einen gemeinsamen Hulk-Schnappschuss. Vielleicht wird ja doch noch alles gut...  


17.1.2016

Schachnovelle: Immer diese Geisterjäger

 

Einfach großartig, die Schachnovelle von Stefan Zweig und ihre Verfilmung mit Curd Jürgens, die gestern auf bibel.tv lief. Der Film ist hier vollständig eingestellt. Es ist ein Plädoyer für Standhaftigkeit und den unbesiegbaren unabhängigen Geist. "Eine ganz sichere Methode" den Widerstand von Intellektuellen zu brechen, die sich nicht in miese Machenschaften hineinziehen lassen wollen, sei es, ihnen die "geistige Stimulanz" zu entziehen; meinte der karrierefetischisti-sche Nazischerge. Er hatte Unrecht. Dass der in Isolierungshaft gesteckte Widerstandskämpfer zwischenzeitlich verrückt wurde, schmälert seinen Erfolg nicht. Und wäre es nicht dieses Schachbuch gewesen, das der Eingesperrte kurzzeitig einheimsen konnte, dann hätte der kreative menschliche Geist einen anderen Weg der Entfaltung gefunden. Da bin ich mir ganz sicher.