5.12.2019

Zum „Recht auf Vergessen“ 

 

Rein aus Intuition heraus sammelte ich die Links zur aktuellen Causa „Recht auf Vergessen“. Es geht um folgende Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG): Recht auf Vergessen I: „Online-Pressearchive können zu Schutzvorkehrungen gegen die zeitlich unbegrenzte Verbreitung personenbezogener Berichte durch Suchmaschinen verpflichtet sein.“ Hier steht die Pressemitteilung dazu und dort sind die Leitsätze des Senats zu finden. LTO hat die Sache zusammengefasst. Beklagte Medienvereine hatten in der Sache zuvor gegenargumentiert: „Eine wahre Berichterstattung sei nur unzulässig, wenn sie geeignet sei, eine erhebliche Breiten-wirkung zu entfalten und eine besondere Stigmatisierung des Betroffenen nach sich zu ziehen, so dass sie zum Anknüpfungspunkt für soziale Ausgrenzung und Isolierung zu werden drohe. Dies sei hier nicht der Fall. Bei Berichterstattung über Straftaten sei zu berücksichtigen, dass sie zum Zeitgeschehen gehörten, dessen Vermittlung Aufgabe der Medien sei … Die Presse könne ihre Aufgabe als Kontrollorgan der Öffentlichkeit nur wirksam wahrnehmen, wenn sie Daten sammeln und archivieren könne. Diese Archive seien das Gedächtnis der Gesellschaft … Das Interesse der Öffentlichkeit, zeitgeschichtliche Ereignisse anhand der unveränderten Original-berichte in den Medien nachzuvollziehen, könne nicht darauf reduziert werden, sich Zugang zu analogen Heftarchiven zu verschaffen.“ Das werde heutiger Meinungsbildung nicht gerecht.

 

Entschieden wurde des Weiteren: Recht auf Vergessen II: „Meinungsfreiheit der Inhalteanbieter ist bei der Prüfung eines Unterlassungsanspruchs gegen Suchmaschinenbetreiber zu berücksichtigen.“ Hier steht die Pressemitteilung dazu und dort sind die Leitsätze des Senats zu finden. Meine zeitlichen Ressourcen sind ebenso begrenzt wie es mein juristischer Sachverstand ist. Daher kann die Angelegenheit an dieser Stelle nicht ausführlicher dargestellt und beurteilt werden. Es bleibt zu hoffen, dass sich der Sache noch weitere kritische Journalisten mit Jura-Kenntnissen annehmen und sie so aufbereiten, dass sie die breite Öffentlichkeit nachvollziehen kann – und zwar inklusive der Neufassung des „Medienprivilegs“ im Rahmen der Datenschutz-Grundverordnung vom 25. Mai 2018. Dass nämlich mit diesen Beschlüssen ganz wesentliche Grundsätze mit weitreichenden Konsequenzen nicht zuletzt für das Pressewesen erfolgt sind, macht LTO nun deutlich: „Mit seinen Beschlüssen zum ‚Recht auf Vergessen‘ hat das BVerfG auch den Prüfungsmaßstab der Verfassungsbeschwerde und damit seine Rolle im europäischen Grundrechtsverbund neu bestimmt“ – kann doch nur heißen: das Bundesverfassungsgericht hat eben mal so sein Selbstverständnis geändert. Ist es dazu legitimiert? Bitte um Aufklärung. 

 

Nachtrag vom 9.12.: LTO hat nachgelegt: "BVerfG zu Recht auf Vergessen I und II Teil 2 - Was bedeuten die Entscheidungen für Bürger, Gerichte und den EuGH?"

 

Nachtrag vom 9.7.2020: Bundesverfassungsgericht: Zulässigkeit einer Berichterstattung über lange zurückliegende Fehltritte öffentlich bekannter Personen - Dabei hat sie bekräftigt, dass eine wahrhafte Berichterstattung über Umstände des sozialen und beruflichen Lebens im Ausgangspunkt hinzunehmen ist ... dass die Gewährleistung einer 'Chance auf Vergessenwerden' durch das Grundgesetz nicht dazu führt, dass die Möglichkeit der Presse, in ihren Berichten Umstände zu erwähnen, die den davon Betroffenen unliebsam sind, schematisch durch bloßen Zeitablauf erlischt." Es komme auf hinreichendes Berichterstattungsinteresse an und ob es für die Einbeziehung des das Ansehen negativ berührenden Umstands objektivierbare Anknüpfungspunkte gibt.

 

Nachtrag vom 29.7.2020: BGH-Urteil: "Recht auf Vergessenwerden" vom Einzelfall abhängig. "Kostenlose Urteile" dazu. Siehe auch: Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Vorhalten von Verdachtsberichterstattung in Online-Pressearchiven - Urteilsbegründung


13.11.2019

Kommt da noch was?

 

Das kann man auch mal zur Kenntnis nehmen: Eine Delegation des Deutschen Richterbundes besuchte vorgestern das Bundesverfassungsgericht und wurde vom dortigen Präsidenten Andreas Voßkuhle in Empfang genommen. Man tauschte sich unter anderem über die „Gefährdungen des Rechtsstaats in Deutschland und Europa“ und über „die Grenzen der Meinungsfreiheit insbesondere im Hinblick auf den Schutz von Funktionsträgern des Staates“ aus.

 

Nachtrag vom 9.12.: "Der Vorsitzende des Deutschen Richterbunds tritt zurück. Jens Gnisa will Landrat in Westfalen-Lippe werden."


8.11.2019

Eklat bei Justizministerkonferenz

 

Wer sich für die aktuellen Beschlüsse der Justizministerkonferenz interessiert: wird hier fündig. Die Beschlussvorlage zur nie konkret definierten "Bekämpfung von Hate Speech" steht dort. Beim Thema "30 Jahre Mauerfall" kam es laut Bild-Zeitung zu einem handfesten Eklat: "Eine gemeinsame Erklärung der Justizminister zum Mauerfall fand bei einer Abstimmung zwar eine Mehrheit, doch vier Landesjustizminister weigerten sich laut Teilnehmern, 'die DDR als Unrechtsstaat zu bezeichnen'." Anstoß am Begriff nahmen Minister aus Brandenburg, Hamburg, Bremen und Berlin. Die Beschlussvorlage ging, nach Unterbrechung der Sitzung wegen diesem "erschreckenden" und "unwürdigen" Schauspiel, trotzdem durch und steht an dieser Stelle


29.10.2019

„Reihenweise Skandalurteile“

 

Man darf gespannt sein, wie es dem Dinslakener Amtsrichter Thorsten Schleif (39) künftig noch ergeht. Er hat nämlich ein Buch geschrieben mit dem Titel „Urteil: ungerecht.“ Der Richterschaft attestiert er laut RP Online „eine gefährliche Kombination aus Ignoranz und Arroganz“, mangel-hafte Ausbildung, schlechte Ausstattung, intransparentes Beförderungswesen und gefährliche Überlastung. „Der Rechtsstaat sei in derart schlechtem Zustand und stehe vor dem Abgrund … Das Misstrauen der Bevölkerung in die Rechtsprechung wachse.“ Im Strafrecht seien Richter in Aussagepsychologie kaum kompetenter als Laien. Die Gefahr der Fehlurteile sei groß. „Auch um die Unabhängigkeit der Justiz sei es schlechter bestellt als in vielen anderen europäischen Ländern.“ Angepasste Ja-Sager bekämen meist die Spitzenposten. „Damit sei die Justiz als dritte Staatsgewalt erschreckend schlecht gegen Missbrauch gefeit.“ Es gebe außerdem „reihenweise Skandalurteile“: „Aus Unsicherheit, aber auch, um vom Bundesgerichtshof keine Rechtsfehler attestiert zu bekommen, verhängten sie möglichst milde Strafen.“ Bei Amazon steht weiter zum Buch: „Brutale Gewalttäter erhalten lächerlich milde Strafen, Wiederholungstäter entgehen längst fälligen Haftbefehlen, weil die Verfahren viel zu lange dauern, Freiheitsstrafen werden wieder und wieder zur Bewährung ausgesetzt … Anhand zahlreicher zum Teil erschreckender Beispiele beschreibt Schleif, wie in Deutschland Richter herangezogen werden, die den Herausforderungen ihres Berufs und unserer Gesellschaft nicht mehr gewachsen sind.“ Die von den Medien herangezogenen Gegenpositionen sind diesmal besonders witzig: Laut Düsseldorfer Justizministerium sei das Buch „nicht mit dem Ministerium abgestimmt“. Und den Direktor des Amtsgerichts Gelsenkirchen – zur dortigen Kompetenz siehe den Fall Sami A. – lässt man schlichtweg das Gegenteil sagen: „Die deutsche Justiz stehe im internationalen Vergleich gut da … der Rechtsstaat funktioniere, und die Bürger hätten Vertrauen in ihre Justiz.“ Alles in Butter. 

 

Siehe auch: "Der frühere Präsident des Bundesverfassungsgericht Hans-Jürgen Papier hat vor einer Erosion und einem Versagen des Rechtsstaates auf vielen Ebenen gewarnt ... Selbst die Verfolgung eines noch so hehren Zieles - 'und sei es die Weltenrettung' - erlaube es nicht, sich über die Rechte anderer hinwegzusetzen ... In seinem neuen Buch 'Die Warnung', das in der kommenden Woche erscheint (Heyne-Verlag), warnt Papier vor einer 'Ökodiktatur'. Papier moniert, dass zu viele Ermittlungsverfahren in Deutschland eingestellt und Haftbefehle vielfach nicht vollzogen würden. Die Justiz sei unterfinanziert ... Ein Versagen des Rechtsstaates sieht der ehemalige Verfassungsrichter auch in dem Umstand, dass im Görlitzer Park in Berlin Drogendealer weitgehend unbehelligt ihren Geschäften nachgehen können." Quelle: stern

 

Nachtrag vom 2.11.: "Der Amtsrichter als Kritiker gerät auch in der eigenen Zunft ins Blicklicht. Er habe 250 positive Aussagen, vielfach von Richterkollegen, aus dem ganzen Bundesgebiet bekommen. Erwartet habe er als 'Nestbeschmutzer' viel mehr 'Gegenwehr'." 


9.9.2019

Die Mühlen der Justiz

 

Wer sich noch darüber wundert, dass die Justiz überall am Anschlag arbeitet, sollte eindrucks-halber mal zwei – lediglich beispielhafte – Prozesse am Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in Gänze durchlesen. Beeindruckend auch, wer es mit offenbar exzellenter Schützenhilfe bis zur obersten Gerichtsinstanz schafft – dem Durchschnittsbürger bleibt das üblicherweise verwehrt. 

 

Im ersten Fall wendet sich ein eritreischer Beschwerdeführer „mit der Verfassungsbeschwerde gegen die Ablehnung eines - vierten - Antrags auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes“. „Er macht ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot wegen einer psychischen Erkrankung nach Ablehnung seines Asylantrags als offensichtlich unbegründet geltend.“ Den Asylantrag stellte er bereits im August 2016. Es folgen x Verfahren und Gutachten. Das BVerfG beschließt im Juli 2019: „Die Entscheidung wird aufgehoben und die Sache wird an das Verwaltungsgericht Frankfurt am Main zurückverwiesen.“ Begründung: „Die angegriffene Entscheidung beruht auf dem festgestellten Grundrechtsverstoß. Es ist nicht auszuschließen, dass das Verwaltungsgericht bei hinreichender Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Vorgaben zu einer anderen, dem Beschwerdeführer günstigeren Entscheidung gelangt wäre … Das Land Hessen hat dem Beschwerdeführer gemäß § 34a Abs. 2 BVerfGG die notwendigen Auslagen zu erstatten.“

 

Im anderen Fall geht es um eine „Anordnung der Fortdauer der Unterbringung des Beschwerde-führers in einem psychiatrischen Krankenhaus“: „Mit Urteil des Landgerichts Frankfurt (Oder) vom 9. Juli 2010 wurde der Beschwerdeführer des versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung schuldig gesprochen.“ Der zur Tatzeit 16-Jährige hatte seiner damaligen Freundin mit Tötungsvorsatz zwei Messerstiche zugefügt. Statt Jugendstrafe wurde Unterbringung in der Psychiatrie angeordnet. Auch später sah die Gutachterin „ein mittleres Rückfallrisiko im oberen Durchschnittsbereich für weitere Gewaltstraftaten“. Von der Gegenseite hieß es: „Die Gefährlichkeitsprognose sei defizitär. Das Amtsgericht Brandenburg an der Havel führe lediglich aus, dass ein mittleres Rückfallrisiko im oberen Durchschnittsbereich für weitere Gewaltstraftaten vorliege. Die Art und der Schweregrad der zu erwartenden Taten werde nicht hinreichend bestimmt. Es sei auch nicht erkennbar, woraus das Gericht die Gefahr weiterer Taten ableite.“ Aus dem Gutachten vielleicht? Oder ist das nichts mehr wert? Wozu wird es dann noch erstellt? Im Juli 2019 jedenfalls folgt das BVerfG ganz der Gegenseite: Die Gerichtsbeschlüsse „verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 104 Absatz 1 Satz 1 und Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes.“ Begründung: „Zwar legt das Gericht dar, dass die Sachverständige von einem ‚mittleren Rückfallrisiko im oberen Durchschnittsbereich für Gewalttaten‘ ausgegangen sei. Auch nimmt es an, dass die Gefährlichkeit des Beschwerdeführers, die sich in den Anlasstaten gezeigt habe, fortbestehe. Zugleich verweist es aber darauf, dass verbliebene Restzweifel zu Lasten des Beschwerdeführers gingen. Welche Gewalttaten mit welcher Wahrscheinlichkeit künftig vom Beschwerdeführer konkret zu erwarten sind, kann dem nicht zweifelsfrei entnommen werden … Damit fehlt es aber an einer ausreichenden Grundlage für die durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebotenen Abwägung zwischen dem Gewicht des Freiheitsanspruchs des Beschwerdeführers und den Sicherungsinteressen der Allgemeinheit.“ (!

 

Nachtrag vom 11.10.: "Der Präsident des Bundesverwaltungsgerichts, Klaus Rennert, beklagt ... eine massive Überlastung der Justiz durch Asyl-Verfahren ... Asyl-Streitigkeiten mittlerweile bis zu 80 Prozent der Gesamtarbeit in den Verwaltungsgerichten der unteren Ebene ausmachten."


19.6.2019

Neubesetzung im Bundesjustizministerium

 

Die Nachfolge von Katarina Barley, die ins Europaparlament geht, ist zum 1. Juli gesetzt. Künftige Bundesjustizministerin ist Christine Lambrecht (SPD, parlamentarische Staatssekretärin im Finanzministerium). LTO erläutert dazu: „Sie zählt zum linken Flügel der SPD … Nach Informa-tionen der dpa trafen die drei kommissarischen SPD-Vorsitzenden Schäfer-Gümbel, Manuela Schwesig und Malu Dreyer die Personalentscheidung kurzfristig.“ Aus der Süddeutschen Zeitung lässt sich schließen: Ausschlaggebend für die Personalie war, dass die „Notlösung“ Lambrecht „dank ihres Bundestagsmandats auch nach Ende der Koalition einigermaßen abgesichert“ wäre – falls die Koalition platzt. Außerdem: „Kanzlerin Angela Merkel kennt sie.“ 

 

Nachtrag vom 4.7.: "Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) ist in die Kritik geraten, weil sie die Leitungsebene ihres Hauses sofort nach Amtsantritt in großem Stil umbaut", heißt es jetzt. FDP: "Die Bürger würden 'noch viele Jahre lang für eine kostspielige Personalpolitik zahlen ... Dass man derart radikal weite Teile der Führungsebene' austausche, obwohl man derselben Partei wie die Vorgängerin angehöre, sei 'äußerst bemerkenswert'." Man erinnere sich an die Ära Heiko Maas im Bundesjustizministerium: "Seit seinem Amtsantritt hat Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) die Mitarbeiterzahl des Leitungsstabs in seinem Ministerium nahezu verdoppelt: Anstatt einer Leitungs-einheit mit drei Referatsleiterposten wie unter" seiner FDP-Amtsvorgängerin "umfasse die Führungsebene jetzt zwei Abteilungen mit insgesamt acht Referaten ... Geführt werden sollen beide künftig von hoch dotierten Unterabteilungsleitern. Die Mitarbeiterzahl, ehemals etwa 30, beziffere sich nun-mehr laut internen Ausschreibungen auf 55." Erklärter Grund: "Neustrukturierungen". 

 

Nachtrag vom 18.8.: Wie man subtil-rhetorisch für die Missachtung der Gesetzeslage wirbt und gleichzeitig konsequente Gesetzestreue mit Verantwortungslosigkeit konnotiert - kurz: an der Umkehrung grundlegender demokratischer Werte des Rechtsstaats arbeitet, demonstriert die Bundesjustizministerin (!) an dieser Stelle: "Christine Lambrecht (SPD) hat dazu aufgerufen, mit Sanktionen gegen das Schulschwänzen bei Teilnehmern an den Freitagsdemonstrationen für Klimaschutz verantwortungsvoll umzugehen."  Ein Leser dazu: "Geht es jetzt bei der Frage nach dem was recht ist danach, was Frau Lambrecht gut findet, oder haben wir Regeln und Gesetze, an die man sich zu halten hat? Wo kommen wir hin, wenn einige entscheiden, was geahndet wird und was nicht. Und wenn einige festlegen, welche Gründe für einen Verstoß schon in Ordnung sind und welche nicht? Ich finde es wirklich unglaublich, welches Rechtsverständnis hier zutage tritt ... andere haben anscheinend Narrenfreiheit, weil es für das Gute ist. Und was gut ist, legt eine gewisse Gruppe willkürlich fest. Unglaublich."

 

Nachtrag vom 11.10.: "Justizministerin Christine Lambrecht stellte vor Karlsruher Juristen ihr rechtspolitisches Programm vor ... warnte Lambrecht intensiv vor dem bröckelnden Zusammenhalt der Gesellschaft, dem zunehmenden Hass und der rechtsextremen Gewalt. Ihr wohl wichtigstes Projekt dagegen ist eine Verschärfung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes ... Betreiber sollen 'Offizialdelikte' der Polizei anzeigen..."

 

Nachtrag vom 16.12.: "WhatsApp, Gmail & Co. sollen Passwörter herausgeben müssen - Der Entwurf von Justizministerin Christine Lambrecht für ein Gesetz gegen 'Hasskriminalität' geht weit über eine Verschärfung des NetzDG (Anm.: Netzwerkdurchsetzungsgesetz) hinaus..."

 

Nachtrag vom 18.12.: Bundesjustizministern wies Kritik an der Passwortabfrage bezüglich des Pakets gegen Hassrede und Hetze zurück. "Sie führe nichts Neues ein, sondern präzisiere nur die seit 2007 geltende Praxis der Herausgabe durch einen Richtervorbehalt..." LTO dazu!


31.5.2019

„Fake-News“ bei der Justizministerkonferenz

 

Das sollte man auch auf dem Schirm haben: Bei der nächsten Justizministerkonferenz am 5. und 6. Juni geht es darum, „Fake-News wirksam“ entgegenzutreten und „Volksverhetzung im Internet wirksam“ zu bekämpfen. Falsche und hetzende Berichterstattung wird erfahrungsgemäß wieder ausschließlich bei Internetmedien angeprangert, während Printpresse und öffentlich-rechtlicher Rundfunk außen vor bleiben. Weitere Tagesordnungspunkte u.a.: „Hasskriminalität entschlossener entgegentreten – Anpassung des Bedrohungstatbestandes nach § 241 StGB“, „Messerangriffe“, „Reform des Sexualstrafrechts“, „Verbesserung der Durchsetzung von Ausweisungen und Abschiebungen bei straffälligen Ausländern/Flüchtlingen und Gefährdern“ und „Weitere StPO-Reform“ – über „Eckpunkte zur Modernisierung des Strafverfahrens“ unterrichtete bereits die Bundesregierung. Relevante Ergebnisse werden hier nachgetragen.

 

Nachtrag vom 7.6.: Aus der Jumiko: härtere Strafen für Messerangriffe will man prüfen, ebenso Ausweitung des Straftatbestands der Bedrohung und Vermeidung von Ersatzfreiheitsstrafen. Alle Beschlüsse im Einzelnen: hier dokumentiert. Der Beschluss zur "Hasskriminalität" steht dort.  


7.5.2019

Justiz-Zweifel: Tugend hier, Gefahr dort

 

Bei der Schwarzkopf-Stiftung geht es heute ab 18 Uhr um den „Rechtsstaat als Auftrag – Wie man mit Zweifeln an der Justiz umgeht “. Die Rhetorik der Veranstaltungswerbung ist wieder bezeichnend für die neueste Zweiklassengesellschaft, in der Funktionäre auf relevanten Posten kritisieren und zweifeln dürfen, während genau dieselbe Inanspruchnahme von Meinungsäußerung beim gemeinen Bürger als gefährlich gebrandmarkt wird. Für Bettina Limperg etwa, „erste Frau an der Spitze des Bundesgerichtshofs (BGH)“, gibt es „nichts Schlimmeres als eine vorgefertigte Meinung. Der Zweifel ist für sie eine ‚richterliche Tugend‘.  Doch wie geht man mit Zweifeln aus der Gesellschaft an der Rechtsstaatlichkeit in Deutschland und Zweifeln an den Gerichtsurteilen des BGH um?“ Das Etikett „Tugend“ bekommen Kritiker in sozialen Netzwerken natürlich nicht zugeschrieben, sondern das Gegenteil: „Es ist bedenklich, wenn Verfassungsschutzsysteme und die unabhängige Justiz als solche angezweifelt werden. Das sind sehr alarmierende Zeichen.“ Es steht auch überhaupt nicht zur Diskussion, ob diese Zweifler recht haben könnten. Sofort erschallt der Ruf nach Kontrolle über die kriminalisierten Bürger. Man achte auch hier wieder auf die hinführend steigernde Rhetorik vom vordem „Anzweifeln“ jetzt zum „Angriff“: „Wie ist mit solchen Zeichen umzugehen und was muss getan werden? Wie arbeitet der Bundesgerichtshof und wie geht er mit Angriffen auf die Rechtsstaatlichkeit um? Wie sind Entwicklungen des Rechtsstaates in anderen Ländern, wie Polen, Ungarn oder USA zu bewerten?“ Deutlicher kann subtile Stigmatisierung kaum formuliert werden. „Sehr alarmierend“ ist allenfalls die Missachtung von individueller Würde durch die ständige Vergabe gruppenbezogener, ehrabschneidender Stigmata. Wie kommen die Leute dazu?

 

Ein Zweifler der "unabhängigen Justiz" in Deutschland ist übrigens auch der Generalanwalt beim Europäischen Gerichtshof. Ist der jetzt auch ein sehr alarmierender Fall? LTO weiter dazu: "Damit wird ein empfindlicher Punkt im deutschen Justizsystem angesprochen, der in seinem organisatorischen Aufbau fußt: Wie unabhängig ist eine Staatsanwaltschaft, die zwar Organ der Rechtspflege ist, aber auch einem grundsätzlichen Weisungsrecht aus dem Justizministerium untersteht?" Siehe auch die Rezension: "Wahrheit am Ende? ... Postfaktische Rechtsprechung?"

 

Nachtrag vom 9.5.: In Berlin: "Einladung zum Rechtsbruch" mit "rosafarbenen Strichen". Außerdem LTO: Ein Richter: "Arbeite ich eigentlich an einem unabhängigen Gericht in Deutschland? Gemeint ist das VG Wiesbaden, betroffen wären bei einer zukünftigen Entscheidung des EuGH aber alle deutschen Gerichte ... Immerhin würden die Richter von den Justizministern der Länder ernannt und von ihnen auch befördert. Auch die Beurteilung der Richter regele das Ministerium ... Die Vorlage folgert auch, dass zwar die Richter selbst unabhängig seien und nur dem Gesetz unterworfen. Eine solche rein 'funktionelle' Unabhängigkeit reiche aber nicht aus, 'um ein Gericht vor jeder äußeren Einflussnahme zu bewahren'. Dabei gehe es nicht nur um Weisungen, sondern auch um mittelbare Einflüsse, die eine Entscheidung der Richter steuern könnten. Letztlich entscheide immer das Justizministerium ... Abschließend kommt die Vorlage zu dem Ergebnis: 'Nach alledem dürfte das vorlegende Gericht die europarechtlichen Vorgaben ... eines unabhängigen und unparteiischen Gerichts nicht in diesem Sinne erfüllen ... Der EuGH wird sicher eine Entscheidung des Generalanwalts einholen und sich hoffentlich auch mit der Frage nach Unabhängigkeit der deutschen Gerichte beschäftigen' ... Dass das Gericht der ersten Instanz dem EuGH überhaupt aus eigener Initiative vorlegt, ist übrigens eher ungewöhnlich ... Die Vorlage zur Unabhängigkeit des Gerichts wurde am 1. April beim EuGH eingereicht, sie trägt nun das Aktenzeichen C-272/19..." 

 

Nachtrag vom 16.5.: Anzuzweifeln ist offenbar auch "die unverzichtbare geistige Leistung, die von einem Richter zu verlangen sei", nämlich durch "gedankliche Vorarbeit ... eine wertende Auswahl zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem zu treffen". Dabei heraus kam ein knapp 1.300 Seiten starkes Urteil. Der rügende Bundesgerichtshof weiter: "Im Übrigen zeige sich in dem Fall ein bedenklicher Umgang mit den Ressourcen der Justiz."

 

Nachtrag vom 28.5.: "Deut­sche Staats­an­wälte nicht unab­hängig genug ... Die deutschen Staatsanwaltschaften bieten keine hinreichende Gewähr für Unabhängigkeit gegenüber der Exekutive, um zur Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls befugt zu sein. Das hat die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs am Montag entschieden." Jens Gnisa vom Deutschen Richterbund: "Das Weisungsrecht der Justizminister an die Staatsanwaltschaften im Einzelfall muss umgehend aufgehoben werden." Der Gesetzgeber müsse das Gerichtsverfassungsgesetz reformieren. "Die deutsche Justiz sollte sich ihren organisatorischen Lebenslügen stellen."

 

Nachtrag vom 27.6.: "Die FDP-Fraktion will die Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft stärken und hat einen entsprechenden Gesetzentwurf vorgelegt ... Das Weisungsrecht in Einzelfällen beschädige das Vertrauen in die Unabhängigkeit von Staatsanwaltschaft und Justiz. Das sogenannte externe Weisungsrecht des Justizministers in Einzelfällen sei daher abzuschaffen. Dagegen sei das allgemeine Weisungsrecht beizubehalten, da hier die Gefahr eines Missbrauchs oder auch nur des Anscheins des sachwidrigen Einflusses gering sei."

 

Nachtrag vom 6.7.: "Die deutschen Staatsanwaltschaften dürfen keinen Europäischen Haftbefehl mehr ausstellen. Das BMJV sieht vorerst keinen Bedarf für Gesetzesänderungen. In der Praxis führt das aber zu vielen Unsicherheiten ... Es habe bereits Fälle gegeben, in denen gesuchte Personen nicht festgenommen oder aus der Haft entlassen worden sind ... Die deutschen Staatsanwaltschaften bewegen sich also seit der EuGH-Entscheidung auf dünnem Eis."

 

Nachtrag vom 15.8.: "Das OLG entlässt einen Drogen-Dealer aus der U-Haft, der Minister-präsident greift das Gericht an, der Richterbund den Ministerpräsidenten, das Justizministerium beschwichtigt – ein Einzelfall oder ein Zeichen für die Überlastung der Justiz?"

 

Nachtrag vom 17.8.: "Mit einfühlsamen Worten redete die Vorsitzende Richterin dem angeklagten Seydou N. (27) ins Gewissen..." Wer diese Empathie vom hiesigen Justizpersonal bekommt ist hier nachlesbar! Relevant auch: "Der Asylantrag des Afrikaners war abgelaufen. Seine Duldung wäre in der Woche nach der Tat ausgelaufen." Nach seiner grauenerregenden Straftat, die das Leben eines Mädchens nachhaltig schädigte, wird er nun erst mal hier bleiben.

 

Nachtrag vom 19.8.: "Deutsche Gerichte ächzen unter der Last von Verfahren gegen islamistische Terroristen ... Durch IS-Rückkehrer könne es künftig noch zu einem weiteren Anstieg von Verfahren kommen ... Personelle Verstärkungen im Staatsschutz gehen daher grundsätzlich zu Lasten anderer Bereiche, zum Beispiel der Ziviljustiz."  

 

Nachtrag vom 21.8.: Urteil mit wirrer Begründung: "Eigentlich sieht die Badeordnung ... vor, ohne Bekleidung zu duschen. Das gelte aber nicht für eine gläubige Muslimin vor dem Schwimmunterricht, die sich nur vor ihrer Familie nackt zeigen dürfe, so das VG Halle..."

 

Nachtrag vom 23.8.: "Ousmane G. (20) legte Ende 2017 zweimal Feuer in seiner Asylbewerber-Unterkunft. Schaden: weit über 40 000 Euro. Im Juni 2018 bescheinigte das Landgericht dem Afrikaner Schuldunfähigkeit – aber auch, dass er eine Gefahr für die Allgemeinheit sei. Er kam in die geschlossene Psychiatrie. Doch der Bundesgerichtshof (BGH) hob das Urteil auf..." Außerdem: "Gerichte brechen zusammen - Zehntausende Kriminelle kommen einfach so davon!"

 

Nachtrag vom 20.11.: "Tür an Tür mit Sextätern - Berlin: Schwerverbrecher in Sicherungs-verwahrung sollen Freigang bekommen." Siehe auch"Einem SPD-Bürgermeister aus Sachsen platzt der Kragen - Abgelehnte Asylbewerber SOFORT abschieben!" Abgelehnter Asylbewerber überfällt eine junge Frau, wird geschnappt und der Staatsanwalt lässt ihn wieder laufen. Dieter Greysinger ist fassungslos. Noch ein Urteil: "Ein Flüchtling, der seine Schleuser unterstützt, macht sich selbst strafbar. Das entschied der Bundesgerichtshof am Donnerstag in Karlsruhe." 

 

Nachtrag vom 12.12.: "Die französische, die schwedische und die belgische Staatsanwaltschaft genügen den Anforderungen, die für den Erlass eines Europäischen Haftbefehls (EuHB) bestimmt sind, so der Europäische Gerichtshof. Die Richter präzisierten damit ihre Rechtsprechung nach einem Grundsatzurteil zur deutschen Staatsanwaltschaft..."


26.4.2019

Ungarn: Juristische Geschmackssache

 

Beim Aufräumen über den Weg gelaufen und hier kommentarlos eingestellt: Das Verwaltungs-gericht Berlin entschied am 13.12.2016: "Das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Flüchtlinge in Ungarn leiden gegenwärtig nicht mehr an systemischen Mängeln"; Anhaltspunkte für unzumutbare Haft- und Aufnahmebedingungen in Ungarn seien nicht mehr gegeben. Anfang 2015 wurden systemische Mängel für Ungarn noch bejaht. Die zwischenzeitliche Entwicklung in Ungarn rechtfertige aber eine solche Bewertung nicht mehr. Deshalb sind "Rücküberstellungen aus der Bundesrepublik Deutschland nach Ungarn möglich". Ein halbes Jahr später entschied das Oberverwaltungsgericht Sachsen: "Abschiebung nach Ungarn wegen systematischer Mängel im dortigen Asylsystem unzulässig - Überstellung nach Ungarn würde Asylantragsteller in Rechten nach der Europäischen Menschen­rechts­konvention verletzen." Die Entscheidung des BAMF über die Abschiebung eines irakischen Asylbewerbers nach Ungarn sei deshalb rechtswidrig.  


5.4.2019

Ideologischer Übergriff aufs Strafrecht

 

Die Linke wird wohl vorerst scheitern, das Strafrecht ihren ideologischen Fantasien anzupassen. Konkret: ihrer potenziellen Wählerklientel Straffreiheit zu bescheren, während man Menschen mit anderer politischer Einstellung gerne der strafrechtlichen Drangsalierung ausgesetzt sieht. „Gegen eine Aufhebung der Ersatzfreiheitsstrafe sprach sich die Mehrheit der Sachverständigen in einer Anhörung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz aus“, liest man im Nachrichtenportal der Bundesregierung. Es ging um diesen Gesetzentwurf der Linksfraktion. Man sorgt sich darin um Diskriminierung von einkommensschwachen Straftätern. Ein Jurist des Deutschen Anwaltsvereins sagte: „Straflosigkeit bei Mittellosigkeit sei jedoch keine Option.“ Weitere Sachverständige „hielten den Entwurf für ungeeignet, da die vorgeschlagene Alternative keinen Strafcharakter mehr habe“. Der staatliche Strafanspruch würde faktisch preisgegeben. Und ein Staatsanwalt gab zu bedenken: Damit ginge eine beachtliche Gruppe, etwa auch arbeitsunwilliger Verurteilter, im Ergebnis straffrei aus. Genau das ist offenbar auch im Sinne der üblichen Meinungsmacher, die stets nur dann nach dem Rechtsstaat rufen, wenn es ihrer Doktrin widerspricht. So meinte etwa das Jugendmagazin Bento der Spiegel-Verlagsgruppe 2016 unter dem hirnrissigen Titel „Warum Schwarzfahren gut für uns alle ist“: „Ich begreife Schwarzfahren als zivilen Ungehorsam des kleinen Mannes, als System-kritik derer, denen stundenlange Sitzblockaden zu anstrengend und Steine schmeißen zu gefährlich ist … es gibt Millionen Gründe schwarzzufahren, einer passt immer … An manchen Tagen ist mein Widerstand eher ideologisch motiviert: Verkehrsmittel erfüllen mein Grundrecht auf Bewegungsfreiheit und müssen nicht bezahlt werden. An anderen Tagen denke ich pragmatischer, zum Beispiel wenn ich spät dran bin, und ein überforderter Rentner den Fahrkartenautomaten blockiert.“ Man stelle sich mal vor, welch Hatespeech-Agitation vom Zaun gebrochen wäre, wenn an anderer Stelle statt „Rentner“ das Wort „Asylbewerber“ gestanden hätte. In punkto derartiger Streuung von Respektlosigkeit seitens vorgeblich moralischer Medienmacher, die Altersdiskriminie-rung und Willkür-Justiz ohne Wimpernzucken in ihren Erzeugnissen zulassen, braucht man sich über solche Entwicklungen nicht zu wundern: „Aggressive 13-Jährige werfen Kontrolleur aus Bahn…“


4.4.2019

Protokoll einer Geburtstagsparty im Düsseldorfer Justizfoyer


26.2.2019

Böckenförde (†) zur Menschenwürde

 

Eine wichtige juristische Stimme ist verstummt. Der ehemalige Richter des Bundesverfassungsgerichts Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Ernst-Wolfgang Böckenförde ist im Alter von 88 Jahren gestorben. Sein Lebenswerk ist offenbar vielschichtig, aber stets geradlinig. In seinen Wortmeldungen zur Menschenwürde kritisierte er jene Rechtsphilosophen, die den Begriff der Menschenwürde, auch in der praktizierten Rechtsprechung, auf dieselbe Stufe wie andere Rechtsnormen herabgestuft wissen wollen. Wie man diesbezüglich argumentiert, ist zum Beispiel im Artikel von Rosemarie Will (2011) nachzulesen. Die Bundeszentrale für politische Bildung hat der langjährigen Professorin an der Berliner Humboldt-Uni aus der „Generation fruchtbarer Juristen“ ausreichend Platz dafür geboten. Nicht nur sie treibt die Frage um, ob denn „Artikel 1 Absatz 1 GG als selbstständiges subjektives Grundrecht tatsächlich unverzichtbar ist“. Böckenförde war schon 2003 von der entsprechend grundlegenden Neukommentierung von Artikel 1 Absatz 1 GG nicht wirklich angetan. Damals erschien ein Beitrag von ihm in der FAZ mit dem Titel „Die Würde des Menschen war unantastbar“. Im Vorspann der FAZ heißt es: „Nach dem Urteil von Ernst-Wolfgang Böckenförde markiert die Neukommentierung eine historische Zäsur. Die Grundlagen, auf denen das Verständnis unserer Rechtsordnung ruhte, werden verabschiedet, rücken ein in den geisteshistorischen Hintergrund. Daß die Würde des Menschen der Abwägung ausgeliefert wird wie jede andere Rechtsposition auch, mag als theoretische Operation konsequent erscheinen.“ Aber, so Böckenförde: „Die Kommentierung der Artikel 1 und 2 des Grundgesetzes durch Günter Dürig, mit der der Kommentar 1958 startete, war gewissermaßen das ideelle und normative Grundgerüst, auf dem sich der Kommentar insgesamt entfaltete. Diesen Sockel wollte man nicht antasten.“ Eine notwendige Ergänzung konnte Dürig vor seinem Tod 1996 nicht mehr leisten. „Im Jahre 2001 kam es zur Neubearbeitung von Artikel 2 Absatz 1 GG durch Udo Di Fabio. Nun liegt die Neulieferung zu Artikel 1 Absatz 1 vor, für die Matthias Herdegen verantwortlich zeichnet.“

 

Mit der Menschenwürdegarantie als „Fundament des Fundaments“ wurde ein grundlegender sittlicher Wert aus der europäischen Geistesgeschichte in das positive Verfassungsrecht übernommen, „das sich dadurch selbst auf ein vorpositives Fundament, eine Art naturrechtlichen Anker, wenn man so will, bezieht“. Dürig sei entschieden für die allseitige Geltung dieser Garantie eingetreten. Die nun vorliegende Fortschreibung von Dürigs Kommentierung nehme neue Problemlagen und Rechtspraxis auf. Sie zeichne sich durch „gediegene Kenntnisse“ aus. Von der Interpretation des Artikels 1 Absatz 1 GG als Übernahme eines vorpositiven sittlichen Werts sei man aber abgekehrt. „Die fundamentale Norm des Grundgesetzes geht so der tragenden Achse verlustig …  Zum Leitfaden der Interpretation werden die Aufnahme und Mitteilung der Deutungsvielfalt.“ Es bleibe die „Spannweite der staatsrechtlichen Exegese“ mit ihrem „weiten Deutungsspektrum“. Damit ist der Würdeschutz für Abstufungen und Variationen offen. „Über seine eigene Relativierung führt er notwendig auch zur Relativierung der Unabdingbarkeit der Menschenwürde selbst, wiewohl der Anschein erweckt wird, diese bestünde fort.“ Tatsächlich aber entscheiden letztlich „Angemessenheitsvorstellungen des Interpreten“. Böckenförde erörterte fairerweise: „Hat nicht jede Generation das Recht, die Frage nach den Unabdingbarkeiten neu zu stellen, die bisher angenommenen zu verändern oder auch zu verwerfen? Gewiß wollten die Väter und Mütter des Grundgesetzes insoweit eine Ewigkeitsgarantie, wie Artikel 79 Absatz 3 des Grundgesetzes ausweist, einen Damm für alle Zukunft aus der bitteren Erfahrung des massiven Unrechts und der kaum übersteigbaren Verachtung der Menschenwürde im ‚Dritten Reich‘. Aber wie lange lassen sich damit Genera-tionen binden, die diese Erfahrung nicht mehr haben?“  Dürig jedenfalls würde, so Böckenfördes Einschätzung, heute fragen: „Warum habt ihr das gemacht?“ und sich über den Wegbruch eines Kernstücks aus dem Grundgesetz beklagen. „Und er würde, dies scheint mir ziemlich gewiß, darum bitten, seinen Namen hinfort aus dem Titel des Gesamt-Kommentars herauszunehmen.“  

 

Zum „Böckenförde-Diktum“ siehe dieses prägnante Erklärvideo.

Zum Thema Menschenwürde findet sich auch dort ein Beitrag.


31.1.2019

Prozess um Offenburger Arztmord

 

Nach der fürchterlichen Ermordung des beliebten Arztes in Offenburg im August letzten Jahres steht jetzt der dringend Tatverdächtige vor Gericht; unterstützt von zwei Verteidigern und einem Dolmetscher. Da die angebliche psychische Störung des Asylbewerbers die Berichterstattung dominieren wird, sei hier eine scheinbar nebensächliche Anmerkung von SWP festgehalten: „Außerdem kam eine Situation zur Sprache, in der die Frau des Arztes am Telefon bedroht wurde. Eine angebliche Psychiaterin habe von dem Arzt für einen Patienten ein Attest verlangt, damit der nicht abgeschoben werden würde. Die Arztfrau habe das abgelehnt. Die Frau am Telefon habe daraufhin gedroht, sie und ihr Mann hätten die Konsequenzen zu tragen, sollte der Patient abgeschoben werden.“ Neue Infos zum Thema werden hier nachgetragen.

 

Nachtrag vom 2.2.: Die ebenfalls angegriffene Arzthelferin hat "dem Angeklagten gezieltes Vorgehen und Tötungsabsicht vorgeworfen. Der heute 27-Jährige habe ohne Vorwarnung auf den Mediziner mit einem Messer eingestochen und dabei bewusst auf Kopf und Hals gezielt ... Sie leide unter dem Verbrechen bis heute ... Die Familie sei schwer traumatisiert." Die Aussage der Arzthelferin "verfolgte der Angeklagte mit vor der Brust verschränkten Armen und grimmigem Blick. Zu der Zeugin gewandt, sagte er: 'Ich kenne sie nicht.' Der Flüchtling leugnet auch sonst vehement die Tat." Fakt ist auch: "Dem Gericht zufolge war er durch am Tatort gefundene Blutspuren überführt worden." Ein Urteil wird für den 21. Februar erwartet.

 

Nachtrag vom 12.2.Der Angeklagte verarscht das Gericht: "Alter, Herkunft, ja selbst der Name, das Schwurgericht kann sich inzwischen praktisch aussuchen, welcher Variante es folgen soll. Konnten Kammer und Staatsanwaltschaft bislang davon ausgehen, einen 27 Jahre alten Mann aus Somalia vor sich zu haben, so herrscht nun selbst bei der doch sehr grundlegenden Frage nach der Identität des Angeklagten Konfusion: Er stamme in Wirklichkeit aus Dschibuti, sei 38 und sein Name stimme ebenfalls nicht. Das Verwirrspiel ist nicht neu ... der Dolmetscher hat einen schweren Stand: 'Ich habe herausbekommen, dass er viel lügt.'..." Patient erkennt Täter

 

Nachtrag vom 15.2.: "...hat der psychiatrische Sachverständige sein Gutachten vorgestellt. Er hält den Angeklagten für psychisch krank und gefährlich. Von einer paranoiden Schizophrenie ist die Rede. Doch was bedeutet das für die Schuldfähigkeit? ... Staatsanwalt Stoffregen fragt, ob das gesamte wahnhafte Verhaltens des Angeklagten nur gespielt sei? 'Das ist grundsätzlich möglich, aber nicht plausibel', antwortet Bork. Denn der Angeklagte hätte in diesem Fall schon Ende 2016 mit dem Schauspiel beginnen müssen (?) ... Am 25. September habe Bork dem Angeklagten ein erstes Gespräch angeboten. Das habe der Mann aber abgelehnt. Bis heute habe kein Gespräch stattgefunden. Aus den Ermittlungsunterlagen habe er auch keine wesentlichen Erkenntnisse für ein Vorgutachten gewinnen können. Auf Grundlage der Aussagen des Angeklag-ten könne er aber mittlerweile eine Einschätzung treffen, auch ohne Kontaktaufnahme." (???)  Außerdem: "Der Arztmordprozess zeigt überforderte Behörden – und einen ratlosen Flüchtlings-helfer - Ein engagierter Betreuer kümmerte sich 2016 um den Angeklagten, der schnell Arbeit fand und als fleißig galt. Sein psychisches Problem sei offenbar gewesen" - aber nicht für alle.

 

Nachtrag vom 21.2.: "Staatsanwalt die dauerhafte Unterbringung des mutmaßlichen Täters in einer psychiatrischen Klinik gefordert. Der 27-jährige Asylbewerber habe im Wahn gehandelt und leide unter einer psychischen Krankheit ... Es bestehe das Risiko weiterer Straftaten, dies habe ein psychiatrisches Gutachten bestätigt. Dass der Angeklagte der Täter sei, sei unbestritten ... Die Tat sei einzig und allein auf die psychische Erkrankung des Angeklagten zurückzuführen ... Um den Angeklagten in einer psychiatrischen Klinik unterbringen zu können, müsse er für schuldunfähig erklärt werden ... Dies habe zwar juristisch einen Freispruch zur Folge: 'Dies darf nicht als Schwäche des Rechtsstaates gesehen werden, sondern als die einzige richtige Maßnahme.' Der Mann werde nicht in Freiheit kommen. Die Allgemeinheit sei so vor ihm geschützt." Anderer Artikel: "Bei den Zuhörern stieß die Forderung (Anm.: nach Freispruch) auf Unverständnis, was sich in ungläubigen Ausrufen deutlich machte." Die Verteidiger "sprachen angesichts der Tat von einem 'unabwendbaren Schicksal'. Zudem verglich einer der Verteidiger die Tötung des Offenburger Arztes mit einem Autounfall – etwas, was man genauso wenig hätte abwenden können. Auch dies sorgte für hörbare Irritation im Gerichtssaal." Urteil: 12. März

 

Nachtrag vom 11.3.Tübingens OB Boris Palmer (Grüne) kritisiert erneut Tagesschau-Chef-redakteur Kai Gniffke, der jetzt neuer Intendant beim SWR werden will. Es geht um seine Kritik, dass die tagesschau nicht über den Arztmord in Offenburg berichtet hatte. Die Stellungnahme von Gniffke steht hier. Palmer war nicht einverstanden mit der Argumentation Gniffkes, erhielt aber auf seinen Offenen Brief vom 21. August 2018 bis heute noch keine Antwort. 

 

Nachtrag vom 12.3.: Urteil: "Da er unter einer schweren psychischen Krankheit und Wahnvor-stellungen leide, sei er nicht schuldfähig, urteilt das Gericht. Es hat ihn daher zwangsweise und auf unbestimmte Dauer in die Psychiatrie eingewiesen - auch weil er eine Gefahr für die Allgemeinheit sei ... In Freiheit werde der nun Verurteilte erst wieder kommen, wenn jedes Restrisiko ausgeschlossen sei ... Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Die am Prozess Beteiligten haben nach Angaben des Gerichts eine Woche Zeit, Revision einzulegen. Zur Frage, ob sie dieses Rechtsmittel möglicherweise nutzen, wollten sie sich am Dienstag nicht äußern."

 

Nachtrag vom 20.3.: Nachdem das Urteil nun rechtskräftig ist: Abschiebung des Täters nach Dschibuti? Kommentar der BNN: "Hatte das Gericht noch auf die weitreichenden Folgen der verfügten Einweisung in die Psychiatrie verwiesen, so grätscht das Regierungspräsidium nun dazwischen. Die Ausweisung des schuldunfähigen Mannes (möglicherweise in die Freiheit) wäre eine Entscheidung, die das Rechtsempfinden der Menschen erheblich beeinträchtigte. Mehr noch: Wenn der zwar psychisch gestörte, aber durchaus nicht auf den Kopf gefallene Angeklagte unter falschem Namen wieder nach Deutschland einreist und hier womöglich weitere Straftaten begeht – wer könnte dann, wie Richter Walter es in dem Prozess so einfühlsam vermochte, nochmals die unvermeidliche Tragik einer neuerlichen Bluttat erklären?"