29.12.2015

Ein paar Worte noch zur Sympathie

 

Also jeder mag es ja halten wie er will, mir persönlich ist es zu unsympathisch eine Weihnachtsansprache anzuhören von einem Bundespräsidenten, der sich schäbiger Begriffe bedient: „Dunkeldeutschland“ etwa stand 1994 zur Auswahl für das Unwort des Jahres. Dem Internet sei Dank konnte ich mir andere Weihnachtsansprachen zu Gemüte führen. Zum interessanten Vergleich, Niveau und Differenzierung betreffend, beispielsweise jene von Bundespräsident Johannes Rau im Jahr 2000: „In Deutschland leben heute auch viele Menschen, die aus anderen Ländern gekommen sind. Wir müssen und wollen friedlich miteinander leben. Dafür brauchen wir guten Willen. Illusionen aber führen zu nichts: Es ist oft nicht leicht, miteinander auszukommen, wenn wir uns in Sprache und Herkunft, in Religion und Kultur fremd sind. Manche fühlen sich überfordert, manche haben Angst, manche haben vielleicht auch schlechte Erfahrungen gemacht - Deutsche wie Ausländer. Solche Sorgen und Schwierigkeiten darf man nicht beiseiteschieben. Wir müssen darüber reden und dann handeln. Nur so können wir Fremdheit überwinden und Probleme lösen.“

 

Die erste von einem Bundespräsidenten gehaltene Weihnachtsansprache im Jahr 1970 war leider nicht auf Anhieb im Internet zu finden, dafür aber ein salopp geschriebener Artikel im Spiegel vom 13. Januar 1969: „Das Befremdliche an Gustav Heinemann ist, daß er immer meint, was er sagt.“ Zeitlebens habe er weder Auto noch Führerschein besessen. „Zum Gala-Empfang für die britische Elizabeth auf Schloß Augustusburg zu Brühl hat er sich damals im VW-Käfer eines seiner Schwiegersöhne, des Godesberger Pfarrers Manfred Wichelhaus, kutschieren lassen“, erzählt der Reporter Hermann Schreiber weiter. Daneben war Heinemann schon auch mal ernsthaft; etwa mit Sätzen wie: „Programmatischer Pazifismus entspricht nicht dem Auftrag des Staates, der auch gegen äußere Feinde schützen soll." Die Sympathischen, von denen ich mich als Bürgerin heute gerne vertreten wissen wollte, sind leider gegangen. Die Politik haben sie offenbar mitgenommen. Was mir bleibt: Ich wünsche den Gästen meiner Homepage einen gelungenen Übergang nach 2016 – laut oder leise, beschwingt oder besinnlich: gerade so, wie es jedem am besten bekommt! 


 23.12.2015

Ein Weihnachtswunsch

 

Es gibt eine Gemeinsamkeit in der Evolutionsgeschichte und der Bibelgeschichte. Erst starben drei Viertel aller Lebewesen - darunter die gigantischen, allseits gefürchteten Dinosaurier - in der Folge einer kaum vorstellbaren Naturkatastrophe aus. Überlebende waren kleine, scheinbar ohnmächtige Säugetiere, die sich mit bescheidenem Bedarf an Nahrung und dem richtigen Gespür für notwendige Schutzmaßnahmen über Wasser halten und sich mit ihrer Art am Ende durchsetzen konnten. Viele Millionen Jahre später steht der kleine David dem riesigen, allseits gefürchteten Goliath gegenüber und besiegt ihn mit einer schlichten Steinschleuder. Selbst wenn aus mancher Forschersicht Goliath am krankhaften Riesenwuchs gelitten haben und in der Folge die Sehkraft eingeschränkt gewesen sein sollte: der kleine Listige, scheinbar Ohnmächtige hat sich am Ende mit bescheidenem Mittel durchgesetzt. In der Weihnachtszeit will ich mir gönnen fest daran zu glauben, dass dies keine Einzelfälle sind. Es ist die Regel wie die Welt spätestens immer dann funktioniert, wenn es todernst geworden ist. Etwas früher wäre natürlich noch besser: das ist mein Weihnachtswunsch.


17.11.2015

Fanatismus: Implodierte Moral  

 

Aus aktuellem Anlass und weil mir die trotzige Parole „Wir lassen uns nicht einschüchtern“ kein Bisschen zum Verständnis der Sache weiterhilft, habe ich mir die Fachliteratur von Günter Hole angesehen. Er ist Psychiater und schrieb 2004 über „Fanatismus. Der Drang zum Extrem und seine psychischen Wurzeln“. Die Schrift liefert allenfalls präventive Argumente, daher wollte ich erst nicht darüber schreiben, so kurz nach dem schlimmen Attentat in Paris. Nachdem ich aber vorhin einen Artikel auf Novo-Argumente las, in dem die Islamisten als nihilistisch charakterisiert werden, will ich nun doch kurz darüber berichten. Denn ich halte diese These für grundfalsch. Nach meinem Informationsstand ist das Gegenteil der Fall. Weitsicht hat Hole jedenfalls bewiesen. Er formulierte vor über zehn Jahren, was die heutige Reaktionslage nach dem erneuten Terroranschlag in Paris zu sein scheint: Der Fanatismus als prinzipiell „uneinnehmbare Bastion feindlicher Mächte, gegen deren gewaltsames Vorrücken und rücksichtslose Durchsetzung nur hilfloses Entsetzen oder militante Gegengewalt bleibt.“

 

Ein Spalt in der Festung? 

 

Einen dritten Weg sieht Hole in der Öffnung eines „Spaltes in der fanatischen Festung“ der handelnden Personen, durch den sie erreichbar sein könnten. Am Ende steht der Hoffnungsschimmer: Ohne Gefolgschaft keine Führung. Das setzt voraus zu verstehen, was Fanatismus ist. Fanatische Menschen treten in allen Lebensbereichen auf, besessen von der Erfüllung hoher Ideale. Der Fundamentalismus begründet dabei die Lehre und stellt ihre Verbindlichkeit her. Der Fanatismus will diese Verbindlichkeit durchzusetzen. Die Grenze zum Fanatischen ergibt sich vor allem aus der Einseitigkeit und der maßlosen Wahl der Mittel, die mit einer gnadenlosen Konsequenz angewendet werden. Typisch am Fanatismus: mit der Wahl der Mittel wird gerade jener Wert verletzt, um den so fanatisch gekämpft wird. Am Beispiel des massenfanatischen Gemetzels während der Französischen Revolution 1793 etwa die Humanität oder die Unantastbarkeit der Würde. Hole stellt klar: „Es ist und bleibt immer wieder der Mensch, der fanatisch wird und sich fanatisch verhält. Und nicht etwa Ideen oder Weltanschauungen.“ Der Drang zum Extrem wurzle im Inneren des Menschen, nicht im Außen. „Die zentrale Rolle ist die Persönlichkeitsstruktur und intrapsychische Dynamik des Einzelnen.“ Ihm zufolge führen spezifische Eigenschaften zum Fanatismus. Etwa eine starke Abhängigkeit von Autoritäten, Manipulierbarkeit im Rahmen eines ansteckenden Gruppennarzissmus und die Unfähigkeit, eigene Gedanken zu entwickeln. Anfällig für Fanatismus sind besonders jene, die ihre unerschütterliche Überzeugung auch aggressiv durchsetzen. Beispiele: hartnäckige Diffamierung Andersdenkender oder gewalttätige Blockadeaktionen.

 

Tyrannei der Werte

 

Kennzeichen des Fanatismus sei eine „Tyrannei der Werte“, die andere Werte unterdrückt und verfolgt. Für Hole wäre daher eine antifanatische Strategie, die Wertevielfalt unserer Kultur, Ethik und Religion zu erhalten. Letztlich gehe es um den Kampf zwischen Fanatismus und Pluralismus. Er favorisiert den Weg der Mitte zwischen Wertebeliebigkeit und Wertediktatur, ohne Preisgabe des Wesentlichen. Das erfordere „Mut zur Unvollkommenheit“ als ausdrücklichen Verzicht auf perfekte Ansprüche religiöser, ethischer oder politischer Art. Die Öffnung eines Spaltes in der fanatischen Festung einzelner Personen könne indessen nur dort gelingen, wo die Begegnung ernsthaft ist und der Fanatiker sich trotz aller Widersprüche als Mensch ernst genommen sieht.

 

Folgt man dieser Analyse, dann ist durchaus auch im deutschen Politik- und Medienbetrieb eine Fanatismusanfälligkeit erkennbar; wenn etwa bereits die Forderung nach Grenzsicherung im Rahmen der Flüchtlingspolitik – ein menschenrechtlich verankertes Souveränitätsrecht von Staaten – ausreicht, um als rechtspopulistisch, rassistisch oder sonst wie diffamiert zu werden. Der ansteckende Gruppennarzissmus ist ebenso wenig unübersehbar wie die, wenn auch eher subtil aggressive Durchsetzung von Zensur in Internetmedien, siehe Facebook. Meiner Beobachtung nach ist keineswegs eine plurale Gesellschaft erwünscht, wie stets behauptet. Die Geisteshaltung, die erforderlich ist, um eine Tyrannei der Werte zu betreiben, ist ebenso im aufgeklärten Westen vorhanden. Der Unterschied liegt in der Wahl der als fundamentalistisch begriffenen Lehre – hier vorrangig Materialismus und moralischer Relativismus, dort der Islam – sowie der Durchsetzungsmittel. Die Fanatismusanfälligkeit im Gewand moralischer Aufgeladenheit aber wird vorgelebt, hier wie dort, freilich in deutlich unterschiedlichem Ausmaß. 


31.12.2014

Plädoyer gegen den Eindruck von Ohnmacht

 

Der Vorfall ist ungefähr schon zehn Jahre her. Ich stand an einer Straßenbahnhaltestelle in Karlsruhe und wollte mich gerade darüber ärgern, dass die Bahnen wegen eines Vorfalls außerplanmäßig fahren. Da sah ich einen Mann mit Blindenstock, der sich anschickte über die Gleise zu gehen – just in dem Moment, als eine Bahn im Schnelltempo anfuhr. Spontan rief ich „Halt!“, rannte zu ihm und zog ihn am Ärmel zurück. Nur wenige Sekunden später rauschte die Bahn an uns vorbei. Es war äußerst knapp und sonst auch niemand an der Haltestelle. Er wandte sich zu mir und sagte: „Sie haben mir das Leben gerettet.“ Mehr nicht. Ich wollte etwas erwidern, vielleicht, um die Bedeutung des Vorfalls herunter zu spielen. Das ging aber nicht. Er sagte es auf eine endgültige Art und Weise, dass mir eine Träne ins Auge schoss und ich nur wie angewurzelt da stand. Der Mann berührte mich noch kurz am Unterarm und ging dann weg. Eine ganze Weile später erst konnte ich akzeptieren, dass ich ihm wohl tatsächlich das Leben gerettet hatte. Das mag dem Umstand geschuldet sein, den Marianne Williamson einmal so formulierte: „Unsere tiefste Angst ist nicht, dass wir unzulänglich sind, unsere tiefste Angst ist, dass wir unermesslich machtvoll sind.“

 

Die Menschen sind nicht ohnmächtig. Sie bestimmen den Lauf der Welt mit. Wie hätte sich das Umfeld des Mannes ohne ihn entwickelt? Wen hat er nach diesem Vorfall außer mir sonst noch so nachhaltig beeindruckt? Was wäre gewesen, wenn Sie gestern Nachmittag nicht noch kurz mit dem Nachbarn geplaudert hätten? Der wäre dann vielleicht fünf Minuten früher aus dem Haus gegangen und auf der Bananenschale ausgerutscht, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht weggeräumt war und so weiter. Es kann auch sein, Sie haben mal beiläufig einen Satz zu jemandem gesagt, der bei dieser Person gerade ins Schwarze traf und Anlass war seine Lebenseinstellung nachhaltig zu ändern, was dann zu weiteren Änderungen in seinem Umfeld führte. Unzählige Möglichkeiten im Leben sind gegeben, die Ihrem ganz persönlichen Einfluss auf den Lauf der Welt Geltung verschaffen; oft ohne dies zu wissen. Deshalb ist niemand ersetzbar. Freilich kann fast jeder eine leichte Tätigkeit erlernen. Trotzdem bringt sich jede Person anders in den Arbeitsprozess ein, löst andere Emotionen aus, trägt individuell zum Arbeitsklima bei. Deterministen und Gleichmacher kämpfen gegen Windmühlen: Denn jeder Mensch bewirkt qua seiner Person einen Unterschied.                 

 

Und was ist überhaupt dran an dem Konstrukt: die großen Macher in Politik und Medien, während die Bürger nur kleine Rädchen im Getriebe sind? Klarheit stellt sich ein beim Nachdenken über folgende Fragen: Wer hat was bewirkt bei der Rückschau eines Jahres? Wie wichtig oder nachhaltig war das? War es positiv oder negativ für das Weltgeschehen? Für die kommende Zeit jedenfalls gilt für mich der Ausspruch von Jimmy Carter: „Mein Glaube gebietet mir, dass ich alles in meiner Macht Stehende unternehme, wo immer ich bin, wo immer ich es vermag, solange ich es vermag, mit den mir gebotenen Mitteln einen Unterschied zu bewirken.“


5.6.2013

Das goldene Kalb namens deutsche Psychiatrie

 

Nun ist sie veröffentlicht: Die fünfte Auflage des „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“ der American Psychiatric Association (APA), kurz DSM-5. Das psychiatrische Diagnosehandbuch beeinflusst das hier in der Praxis gültige Diagnosesystem ICD, wonach gesundheitsrelevante Entscheidungen getroffen werden. Die Skandalisierung ist in vollem Gange. Im Stil der Bildzeitung schrieb etwa die Zeit: „Ende Mai werden auf der Welt plötzlich Millionen Geisteskranke mehr leben.“ Der Stern titelte: „Psychisch krank über Nacht“ und das Politmagazin Kontraste im Bayerischen Fernsehen brachte Folgendes: „Verhaltensauffällige Kinder? Alle psychisch krank. Trauern länger als zwei Wochen? In Zukunft psychisch krank. So steht es im neuen Diagnosehandbuch DSM-5.“

 

Glatte Falschmeldungen. Was es etwa mit dem Aspekt der Trauer im DSM-5 tatsächlich auf sich hat, erfährt, wer sich dank des Internets bei ausländischen Medien informiert. Science ORF.at lässt den Psychiater Johannes Wancata erklären: „Man muss abwarten, bis die tatsächlichen Formulierungen bekannt sind, ich warne aber vor allzu viel Aufgeregtheit, etwa bei der Trauerfrage. Meiner Ansicht nach wird sich hier gar nichts ändern. Bisher war es so: Wenn jemand alle Kriterien einer schweren Depression erfüllt hat, aber einen Trauerfall hatte, der länger als zwei Wochen her war, so galt dies als Ausschließungsgrund. Dieses Ausschließungskriterium der Trauer will man im DSM-5 nun offenbar streichen. Im ICD-10 hat es das aber nie gegeben. Insofern werden sich die Depressionsdiagnosen auch nicht vermehren.“ In der Praxis bedeutet das: Wer nach einem Trauerfall nicht zum Arzt geht, bekommt auch keine Diagnose. Geht aber jemand nach einem Trauerfall zum Arzt, weil er sich depressiv fühlt und von sich aus ärztliche Hilfe haben will, kann diese nun auch vor Ablauf von zwei Wochen unproblematisch mit der Krankenkasse abgerechnet werden, weil eine Diagnose gestellt werden kann. Wo ist hier Anlass zur Empörung?

 

Beim Psychiater liegt die Verantwortung

 

Im Zuge der Überarbeitung des DSM wurden Umgruppierungen und Differenzierungen in Diagnoseuntergruppen vorgenommen. Ob es nun insgesamt mehr Diagnosen im Vergleich zur Vorgängerversion gibt, glaube ich erst, wenn dies jemand genau darlegt: wenn also die Diagnosen im DSM IV gezählt werden und zwar ohne die übergeordneten Kategorien sowie differenziert nach Anzahl der Diagnosen im Hauptteil und im Anhang; die selbe Zählweise dann beim DSM-5 angewandt und schließlich verglichen wird. Da bezahlte Journalisten das Arbeiten offenbar nicht mehr gewohnt sind, wird sich wohl keine Aussage darüber treffen lassen. Der Punkt aber ist: Das DSM zwingt keinen einzigen Psychiater zur Stellung einer handfesten Diagnose. Wenn eine Person bei einem seriös arbeitenden Psychiater vorstellig wird und dieser die geschilderten Probleme im Spektrum normaler Alltagsbewältigung ansiedelt, wird er zwecks Abrechnung mit der Krankenkasse allenfalls eine minimale Befindlichkeitsstörung diagnostizieren oder es bei einer Beratungsleistung belassen. Die Umsetzung liegt in der Verantwortung praktizierender Psychiater und hier wird es interessant. Während sich die deutschen Medien in polemischen Ergüssen gegen die amerikanische Psychiatervereinigung APA suhlen und sich dabei als mutige Psychiatriekritiker gerieren, scheinen hiesige Psychiater jeder Kritik enthoben.

 

Kaum ein Journalist machte etwa im Fall Gustl Mollath das fragwürdige Vorgehen der Psychiater zum Hauptthema seines Artikels. Obwohl reine Ferndiagnosen unter Einfluss ungeprüfter Anschuldigungen erstellt wurden mit erheblichen Folgen für den mittlerweile seit sieben Jahren zwangspsychiatrisierten Aufdecker bayerischer Schwarzgeldverschiebungen. Ebenfalls der breiten Öffentlichkeit kaum vermittelt: Den Psychiater, der mittels Gefälligkeitsgutachten für das Land Hessen die Entlassung der Steuerfahnder Schmenger & Co. unterstützte, verurteilte das Gießener Berufsgericht für Heilberufe zu einem Verweis und einer Geldbuße von 12.000 Euro. Unter dem Titel „Standesrechtliche Verstöße eines Arztes durch fehlerhafte Gutachtenerstellung“ ist im Urteil formuliert: „Im Hinblick darauf, dass der Beschuldigte für das Gericht nicht erkennbar machte, dass er sein Fehlverhalten einsieht, bedurfte es der Verhängung einer nicht zu geringen Geldbuße, um das Ziel der Verhinderung berufsrechtlichen Fehlverhaltens in der ärztlichen Arbeit des Beschuldigten in Zukunft zu erreichen.“ Kein Berufsverbot also und trotzdem nahm ihn die FAZ in Schutz: „Nach bestem Wissen und Gewissen“ überschrieb sie ihren Beitrag mit dem Hinweis des Psychiaters, die vier Fahnder hätten ihn ja nicht von der Schweigepflicht entbunden und wegen dieser „Waffenungleichheit“ könne er die gegen ihn erhobenen Vorwürfe nicht entkräften.

 

Indessen scheint ihm gerade diese Lage nützlich zu sein: „Warum er im Falle aller vier Fahnder zu einer übereinstimmenden, teilweise wortgleichen Analyse gelangt sei, könne er wegen seiner Schweigepflicht nicht sagen.“ Immer erfrischend, wenn wenigstens Leserkommentare der journalistischen Sorgfaltspflicht genügen. Ein User schrieb der FAZ dazu: „Warum akzeptierte dann der Psychiater die ihm vom Gericht auferlegte erhebliche Geldbuße? Bei dem Prozess hatte der Gutachter zudem doch genau die ‚Waffengleichheit‘, die ihm angeblich jetzt fehlt. Dass die ehemaligen Steuerfahnder den Mann nicht von seiner ärztlichen Schweigepflicht entbinden, ist verständlich. Wo sind wir denn, wenn Menschen ihre Intimsphäre öffentlich zur Schau stellen lassen sollen, obwohl längst ein Gericht unter Wahrung der Persönlichkeitsrechte der Betroffenen über den Fall geurteilt hat?“

 

Transparenz ist Aufgabe der Presse 

 

Die Frankfurter Rundschau setzte bei ihrer Berichterstattung den Fokus darauf, dass politische Hintermänner den Psychiater angestiftet hätten. Der deutsche Psychiater als Opfer also, der nicht in der Lage ist, für sein Tun Verantwortung zu übernehmen? Sicher ist die Verquickung von Politik, Verwaltung, Justiz, Psychiatrie und Pharmaindustrie ein missbrauchsanfälliges Konstrukt. Doch sind es immer konkrete Personen, die geldsüchtig sind, sich korrumpieren lassen oder einfach feige den Mund halten. Es fehlt an Fachleuten mit Charakter und Rückgrat, die sich derartigen Spielen verweigern wie oben erwähnte Whistleblower. Inwieweit die Psychiatrisierung gerade jener hierzulande Methode ist, bliebe zu recherchieren. Ebenso die Ursache für die mangelnde Aufarbeitungsbereitschaft politisch motivierter Zwangspsychiatrisierungen in der DDR.

 

Die Presse hat die Aufgabe, diese deutschen Zustände der Bevölkerung transparent zu machen. Zustände, die nicht von einem Handbuch aus den USA, sondern von hier und heute handelnden Personen und deren Mitläufern geschaffen sind. Kein Psychiater ist gezwungen, falsche Gutachten zu erstellen oder unnötig Medikamente zu verschreiben. Ein anständiger Mediziner wird das auch zukünftig nicht tun. Im Übrigen sind außerdem die Richter nicht gezwungen, psychiatrischen Gutachtern bei Gericht zu folgen. Theoretisch wie praktisch wäre es durchaus möglich, Spielverweigerer vor Mobbing und Verlust ihrer Arbeitsplätze zu schützen. Etwa durch bundesweite Anlaufstellen für Whistleblower – im Ärztewesen machte „Medleaks“ mit ihrer Plattform bereits einen Anfang – und eine unabhängige Presse, die solche Fälle hartnäckig und öffentlichkeitswirksam aufbereitet und zwar so lange, bis sich die Verantwortlichen dem Handlungsdruck nicht mehr entziehen können. Wer es schafft, einen Bundespräsidenten aus dem Amt zu kicken, dürfte auch hierzu in der Lage sein.

 

Menschenrechtsidee ist antikollektivistisch

 

Letztlich soll dieser Beitrag keine kritiklose Verteidigungsschrift der herrschenden Diagnosemanie sein. Der Stigmatisierungseffekt tritt allerdings weniger ein durch eine Diagnose, als vielmehr durch die Ausblendung der Resilienz; also der Fähigkeit, mithilfe persönlicher Ressourcen eigenständig zu gesunden. Kein lukratives Geschäft natürlich, wenn sich einer vom Gesundheitswesen unabhängig macht. Trotzdem ist auch das nur ein Teilaspekt. Insgesamt wird die gesellschaftliche Entwicklung in eine kollektivfetischistische Richtung gedrückt, die individuelle Eigenheiten ausmerzt, einfach strukturierte Kategorien produziert und damit den Leuten das differenzierte Denken abtrainiert.

 

Es ist deshalb an der Zeit, das in der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ (AEMR) gesetzte Menschenbild zu verteidigen – gegen ihre Instrumentalisierer vorwiegend von grünroter Seite. Gemeint ist nicht die Verteidigung der später von anderen Arbeitsgremien erstellten Konkretisierungen der AEMR, also die Pakte und Konventionen. Der wertvolle Bodensatz ist das Basisdokument selbst, das die persönliche Entfaltung der Einzelnen im Blick hat. Es wäre eine originäre Angelegenheit liberal denkender Menschen, die AEMR als Anwältin der Individuen zu verteidigen. Das grundlegende Menschenbild ist das – sich selbst und der Gemeinschaft gegenüber – verantwortungsfähige Individuum, das sich in kein Schema F pressen lässt. Auf dieser Basis ließe sich mit Aussicht auf konkrete Ergebnisse diskutieren: über Psychiater, die glauben, kriminell aufgeladenen Behördenstrukturen alternativlos ausgeliefert zu sein oder über Chefredakteure, die einen unterwürfigen Eiertanz um den Missbrauch der deutschen Psychiatrie veranstalten.

 

Nachtrag vom 5.6.2021: "Gesundheitspolitik gegen psychisch kranke Menschen - Bundesregierung plant harte Einschnitte in die psychotherapeutische Versorgung. Ein Raster soll festlegen, wie lange ein Patient behandelt wird. Es gibt Kritik. .." Außerdem: "Psychiatrie: Gebt das medizinische Modell endlich auf! - Psychische Störungsbilder werden medikamentös behandelt, obwohl sie biomedizinisch gar nicht diagnostizierbar sind - zugleich werden immer mehr Fälle registriert ... Insgesamt täte die Gesellschaft aber gut daran, ihren Umgang mit psychischem Leiden einmal grundsätzlich zu überdenken. Das Subjektive wurde systematisch aus Wissenschaft und Medizin verdrängt. Es ist an der Zeit, diese wichtigen Gebiete für die Subjekte zurückzuerobern."


5.5.2013

Kierkegaard: Selbstdenkende Subjektivitäten

 

„Sein Haar stand in einem hochfahrenden Kamm beinahe einen Viertelmeter über seiner Stirn empor, und er sah merkwürdig verwildert damit aus“, schrieb Hans Brøchner in seinen Erinnerungen an Søren Kierkegaard. Diese Äußerlichkeit findet durchaus ihre Entsprechung. War der dänische Philosoph und Theologe doch zeitlebens aufgewühlt und leidenschaftlich empört ob der Vorgänge in seiner Umwelt. Heute ist sein 200. Geburtstag. 

 

Abgehoben und lebensfremd fand er die von Hegel kollektivistisch geprägte Philosophie seiner Zeit. Es muss doch um das Individuum gehen, um die Suche nach konkreten existentiellen Antworten, um die Innerlichkeit der eigenen Person. Letztlich führte diese, wenn auch nicht ganz neue These zum Durchbruch der modernen Existenzphilosophie. Doch so einfach kategorisieren lässt sich eine vielschichtige Person wie Kierkegaard nicht. Er legte Wert auf ständige Entwicklung; das Individuum ist nie fertig, sondern werdend, es muss sich immer wieder neu entscheiden. Im zwischenmenschlichen Umgang geht es darum, im Anderen ein Fragen und Denken zu erzeugen. Eine äußerst lebendige Präsentation von menschlichem Leben also im Vergleich zur Hegelschen Nivellierung der individuellen Besonderheiten. Kierkegaard fand dafür eine zeitlose Formulierung: „Woran die Welt vielleicht immer Mangel gehabt hat, ist, was man eigentliche Individualitäten nennen kann, entschiedene Subjektivitäten, künstlerisch durchreflektierte, selbstdenkende, im Unterschied von schreienden und dozierenden.“ Heute wäre Kierkegaard vermutlich entsetzt über die stumpfsinnige, repressiv durchgeführte Einebnung individueller Ansichten.

 

Vorgegebene Methoden des Existierens waren Kierkegaard ein Graus, auch im religiösen Bereich. Nach erfolgreicher Distanzierung von seiner auf einem strafenden Gottesbild fußenden christlich-dogmatischen Erziehung fand er aus freien Stücken zu einer tiefen Religiosität, die – dem heutigen christlichen Verständnis entsprechend – auf Gottvertrauen als unverlierbare Basis und Willensfreiheit setzt. Von der Freiheit her und in seinem Gewissen vor Gott erkennt der Mensch seine Verantwortung. Daraus kann er, selbstbestimmt und unabhängig, sein Handeln in der Welt gestalten. Für Kierkegaard ist das Christentum keine Lehre, die doziert werden kann, sondern eine Existenzmitteilung, die es gilt einzuüben. Letztlich kommt es darauf an, die gottgewollte Bestimmung für das eigene Leben zu verstehen. Als ganz individuelle Angelegenheit. In seiner Forderung nach Trennung von Staat und Kirche war er so konsequent, dass er auf dem Sterbebett 1855 das Abendmahl ablehnte: Der hinzugerufene Pfarrer war gleichzeitig ein staatlich-königlicher Beamter. Mag sein, dass Kierkegaard heute weniger empört wäre über das eher in seinem Sinne gelebte Christentum als vielmehr über die  treibjagdähnliche Kirchenkritik seitens religionsapathischer Medien und Institutionen.

 

Wie die Faust aufs Auge – Kierkegaards Massen- und Medienkritik: Die meisten Menschen bilden sich keine eigene Meinung, lassen sich aber von führenden Meinungsmachern einreden, sie müssten unbedingt eine zu diesen oder jenen Dingen haben. In der Regel übernimmt die Masse die ihnen vorgesetzte Meinung. Die Presse hat dadurch die Macht, die Einzelnen als Teil des Publikums zum Herdenvieh zu degradieren und zu lenken. In der Herde können sie sich verstecken, müssen sich nicht verantwortlich fühlen. Wer sich dagegen stellt, ist einem Martyr-ium ausgesetzt und in der Folge wagt kaum noch einer, aus der Reihe zu tanzen, als unabhängi-ges Individuum zu leben. In diesem massenpsychologischen Moment erkannte Kierkegaard auch eine politische Gefahr. Konsequenterweise grenzte er sich deutlich ab vom Sozialismus und dem Gedankenkonstrukt, der Mensch entwickle seine wahre Natur nur in der Gemeinschaft. „Überhaupt ist Bedürfnis nach Einsamkeit ein Zeichen dafür, dass in einem Menschen Geist ist“, argumentierte er. Käme Kierkegaard heute auf eine Stippvisite vorbei und sähe einen Tag lang fern, er ginge sofort zum Friseur und ließe sich einen Irokesenschnitt verpassen.


4.11.2011

Leserbrief zu Stasiopfern

 

Mit Erstaunen habe ich die Meinung des Theologen Richard Schröder gelesen: „Wir leben in einer opferorientierten Kultur.“ Diese Prämisse halte ich für falsch. Mein Eindruck ist vielmehr, dass wir in einer täterorientierten Kultur leben. Das zeigt sich bereits an dem Umstand, dass Opfer oft jahrelang um Rehabilitationsleistungen kämpfen müssen. Im Übrigen bestätigt dies Herr Schröder selbst, wenn er das Urteilsvermögen der Opfer von Unrecht anzweifelt, während er das Urteilsvermögen von Tätern selbstverständlich vorauszusetzen scheint. Fast schon weh tut seine Ansicht, ein Unrechtsopfer zu sein sei weder eine Leistung noch beweise es Mut und Charakterstärke.  Wer seinen Lebensmut nicht verliert, obwohl ihm Unrecht widerfahren ist und darüber hinaus die Umstände aufarbeitet, beweist natürlich Mut und Charakterstärke: weil dies schonungslose Ehrlichkeit sich selbst gegenüber erfordert.


16.7.2011

Leserbrief zu Schockenhoffs Outing

 

Hut ab vor dem CDU-Bundestagsabgeordneten Andreas Schockenhoff. Natürlich ist er nicht der Einzige im Politikbetrieb, der sensibel auf den Giftstoff Ethanol reagiert und daher eine Alkoholabhängigkeit entwickelt hat. Im Vergleich zu seinem mutigen Outing wirken die üblichen ausgrenzenden Reaktionen geradezu kindisch und ignorant gegenüber den Tatsachen. Schon im 16. Jahrhundert galten insbesondere Deutsche als unverbesserliche Saufbolde. In der Reichspolizei-ordnung von 1521 findet sich die Aussage, dass das Abstellen des exzessiven Alkoholkonsums bei den „minderen“ Ständen unmöglich ist, solange die Obrigkeit selbst exzessiv trinkt. Das Argument des Alkoholkonsums als kulturelle Tradition zieht spätestens seit Emil Kraepelin nicht mehr, der sich für eine abstinente Lebensweise entschied und in seinen Lebenserinnerungen 1983 feststellte, dass „eigentlich kein vernünftiger Anlass zum Trinken auffindbar sei. Diese Erfahrung machte deswegen auf mich Eindruck, weil ich bis dahin die Nützlichkeit, ja Unentbehrlichkeit des Alkoholgenusses für unbestritten gehalten hatte.“ Hoffentlich bleibt Schockenhoff nach seiner Genesung dem Politikbetrieb erhalten – er wäre ein Spiegel für diejenigen, die den Anschein erwecken, der Rausch berechtige zu Hemmungslosigkeit und befreie von Verantwortung.

 

Anm.: Der Politiker starb leider am 14. Dezember 2014 im Alter von 57 Jahren.


17.9.2009

Leserbrief zu Suizid

 

Es ist mutig, über das Thema Suizid zu berichten und dies auch noch in der Rubrik „Politik“ zu platzieren. 11000 Suizide pro Jahr, darunter ein Großteil junger Leute, sind keine von der Gesellschaft isolierten Einzelschicksale und sollten schon längst zum Nachdenken angeregt haben: Was fehlt jenen, die das Leben nicht mehr ertragen – trotz guter Grundausstattung und Begabung? Wer sich der herrschenden Ellenbogenmentalität nicht anpassen kann oder will, wird in der Regel ausgegrenzt oder pathologisiert und wer trotz allem bei sich bleibt, geht zweifelsohne den schwierigeren Lebensweg. Findet sich kein zuhörendes Gegenüber zum Austausch, kann das leicht in die Verzweiflung führen. Es bedarf zunächst einer grundlegenden Reflektion über scheinbar starke und scheinbar schwache Menschen, um dann die Rahmenbedingungen zu schaffen, unter denen jeder seinen Platz in der Gesellschaft finden kann.


15.8.2009

Leserbrief zu Mobbing

 

Bei diesem Thema wünsche ich mir eine deutlichere Sprache. Mobbing ist kein Kavaliersdelikt, sondern eine Straftat, die Gewaltbereitschaft und kriminelle Energie voraussetzt. Da die Straftäter auf juristischem Weg nicht zur Verantwortung gezogen werden, bleiben zwei Dinge: Erstens: Die Erkenntnis, dass sachlich gesehen nicht die Gemobbten an ihrem Selbstwertgefühl zweifeln müssen, sondern die Mobber und ihre (aktiven und passiven) Mitläufer. Mit jeder Diskriminierung, Lüge oder sonstigen niveaulosen Aktion verhalten sie sich selbst gegenüber unwürdig. Zweitens: die gesellschaftliche Ächtung. Das ist so lange schwierig, als destruktive Arbeitsethik und Karrierestreben höher bewertet werden als Zivilcourage und sozial verantwortliches Handeln. Schade, dass sich die Gemobbten nicht so gut solidarisieren wie die Mobber. Gemeinsam könnten sie vielleicht viel bewegen.


16. 9. 2008

Leserbrief zum Thema Rauchen

 

Natürlich ist Rauchen eine Abhängigkeitserkrankung, kein Mensch zieht sich freiwillig mehrmals täglich luftabschneidendes Nervengift hinein. Es ist nicht neu, dass Nikotin das höchste Abhängigkeitspotenzial - höher als Heroin - hat. Die Aufregung um diese alte, nur neu ausgesprochene Erkenntnis ist dem neoliberalen, entsolidarisierenden Gesellschaftsbild geschuldet, das (scheinbare) Unabhängigkeit hochhält und damit komplexere menschliche Funktionsweisen ignoriert. Souverän wäre es, krank machende Abhängigkeiten erst wertfrei zu akzeptieren, dazu zu stehen und dann zu versuchen, sich von ihnen zu lösen. Wer den Mut hat, sich diesem Prozess zu stellen, sollte wie bei allen anderen Abhängigkeitserkrankungen erforderliche Unterstützungsleistungen bekommen. Wenn die Ärzteschaft mit ihrer Forderung auch der Pharmaindustrie auf die Sprünge helfen will, dann ist das ein Problem, das an anderer Stelle bearbeitet gehört; ändert aber nichts daran, dass sie in diesem Punkt recht hat.


8.12.2007

Leserbrief zum Thema Suizid

 

Danke an die Redaktion für den differenzierten Artikel zum Tabuthema Suizid und für den Hinweis von Präventionsspezialisten, über seelische Probleme nicht stigmatisierend zu berichten. Labilität ist auch ein Zeichen dafür, dass man in einer Ellenbogengesellschaft emotional erreichbar und authentisch geblieben ist. Das ist eine Stärke, die die Gesellschaft mit ihren ungesunden Verhaltenskodexen braucht, um daran erinnert zu werden, dass Leben wesentlich mehr ist als Image und Leistung. Unterstützung für Hinterbliebene bietet neben dem Krisendienst auch der Verein Angehörige um Suizid.